Regen, Liebe und ein altes Kind

Ich gehe spazieren, ich will zur Yuelu-Akademie. Das ist die zweitälteste Universität des Landes, sie ist über 1000 Jahre alt. Von außen habe ich das Gelände schon gesehen, ich erwarte nicht viel und liege damit, wie meistens, falsch. Ich habe in der Akademie für eine Sekunde das gefunden, was wir angeblich alle suchen. Aber dazu später.
Der Tag, an dem ich zur Akademie ging, war der erste Abend seit Tagen, an dem ich das Haus verließ. Ich war krank und hütete des Bett. Am Beginn meines Spazierganges fragte ich mich, was ich hier eigentlich mache. Ich glaubte, meine Krankheit sei Folge dessen gewesen, dass ich mich überanstrengt hatte. Meine Arbeit und meine Hobbys hatten mir keine Luft gelassen.
Ich gehe spazieren. Ich möchte nicht an der Hauptstraße entlang zur Yuelu-Akademie, also nehme ich die erste Gasse links. Was ich an Changsha mag, ist, dass Gassen hier Gassen sind; wenn man die Arme ausstreckt, fühlt man Stein mit beiden Händen. Meine Gasse ist weder breit noch lang. Schon bald laufe ich einen Waldweg hinauf. Der Hügel vor mir ist die Rücken des Hügels auf dessen anderer Seite die Yuelu-Akademie liegt.
„Der Weg ist gut,“ denke ich. Denn ich bin hier für chinesische Verhältnisse allein. Als ich zuletzt diesen Hügel von der anderen Seite bestieg, teilte ich jede Treppenstufe mit drei Chinesen. Hier treffe ich nur alle 50 Meter auf einen anderen Einsamen.
Doch der Weg zieht sich. Das ist nicht gut, ich habe Angst, dass die Dunkelheit kommt, während ich noch im Wald bin. Aber viel zu schnell erreiche ich die gepflasterten Straßen auf der anderen Seite des Hügels. Diese Straßen sind der Grund, warum ich nicht viel erwarte von der Akademie. In China stehen sogar die Touristenattraktionen in Konkurrenz zueinander. Sie bekommen Noten. Die Yuelu-Akademie hat ein AAAAA! Das ist die Bestnote. Um den Andrang einzufangen, den eine AAAAAAtraktion anzieht, werden diese meist zu Tode betoniert. Der Park um die Akademie könnte schön sein, wären dort nicht all die Straßen, Autos und Parkplätze. Ich erwarte nichts von der Akademie, eher missmutig trotte ich vor mich hin.
„I love you“, sagt mir ein junges Mädchen in Schuluniform.
„You are so tall, I love you,“ sagt sie.
Mir geht’s sofort besser. Die Chinesen sind eines der touristenfreundlichsten Länder der Welt und sie verstecken ihre Zuneigung nicht. Da die Zuneigung meist in ein schlechtes Englisch gewickelt ist, kommt sie oft recht direkt daher.
„Should we get married?“ frage ich meine viel zu junge Verehrerin lachend. Sie versteht nicht, doch ihr Freund neben ihr tut es und schleift sie schnell von mir weg.
Sie ruft noch: „You are so handsome!“ Er schleift schneller.
Ich stelle mir vor, ich würde mit meiner Freundin in Berlin spazieren gehen und sie würde dem ersten dahergelaufenen Asiaten solche Anträge machen, weil er so schön schwarzes Haar hat.
Lustig ist es meistens und oft schaffen irgendwelche Chinesen es, durch ihre Freundlichkeit jeden Anflug von schlechter Laune zu vertreiben. Ein paar Tage später zum Beispiel sollte ich mich vor einem ekelhaften Dauerregen in ein Café flüchten. Ich war müde und nass, was keine gute Kombination ist. Schlimmer noch, es bestand auf Stunden, keine Hoffnung zu trocknen, denn im Café war es genauso feucht wie in der Uni, in die ich in ein paar Stunden zurück musste. Missmutig ließ ich mich in einen der kitschigen Sessel plumpsen. Doch die Belegschaft freute sich sehr. Sie freute sich, dass ein Ausländer in ihrem Café war. Während sie gemeinsam meinen Kaffee zubereiteten, sahen sie immer wieder kichernd zu mir herüber. Als mir die mutigste den Kaffee brachte, blieb sie an meinen Tisch stehen und beobachtete mich beim Trinken.
Ich lächelte sie an, sie strahlte zurück.
„Wir wollen dir was sagen“, verriet sie mir auf Englisch.
Sie deutete über ihre Schulter auf ihre zwei Kollegen.
„Wir alle lieben dich“, sagte sie.
Ihre Kollegen strahlten mich an.
„Die sahen mir gleich schwul aus“, dachte ich.
Sicher, mit ihrem Liebesgeständnis wollen sie mir nur sagen, dass ich willkommen sei. Ich hoffe bloß, das sie niemals besser Englisch lernen. Ich möchte immer so begrüßt werden, das ist besser als „Oh, Kapitän mein Kapitän“, ich werde öfter kommen. Meine schlechte Laune war übrigens weg und die Feuchtigkeit spürte ich kaum noch.
Aber zurück zur Akademie in der ich endlich bin. Die ersten Meter im alten Gebäude langweilten mich, da ich meine eigene Langeweile mitgebracht hatte. Ich hatte nichts erwartet und fand genau das. Ich hatte nur Spaß daran, Fotos zu machen. Ich dachte, dass dies die typische pseudo-antike chinesische Touristenattraktion sei. In China hat man eine andere Definition von Authentizität. Wenn das Haus alle 100 Jahre nachgebaut wird, gilt es immer noch als original.
„Und das sieht man“, dachte ich, ganz der dumme Europäer.
„Wenigstens habe ich eine gute Zeit erwischt, ich bin fast allein hier.“
Ich schlenderte durchs Haus, durch die Häuser, von Hof zu Hof. Wie in einer Matroschkapuppe versteckte sich in der Akademie ein Hof im anderen, das war ein Labyrinth. Ich mag Labyrinthe. Und plötzlich, als hätte ich die Augen ein zweites Mal geöffnet, sah ich, wie schön es war um mich herum. Ich sah die Akademie mit den Augen eines Kindes, mit meinen Kinderaugen.
Als ich Kind war, ist meine Mutter mit mir durch Asien gereist. Damals als Kind liebte ich es, durch die Tempel und Paläste Indiens und die Gärten Chinas zu stromern. Sie für mich zu entdecken und mit den Gestalten meiner Phantasie zu bevölkern.
Die Akademie ist wunderschön, doch um das zu sehen, brauchte der Großkalle, die Augen seines inneren Kindes. Erinnerungen an Kindertage. Nein: erneutes Erleben der Kindertage. Kleinkalle weiß, wie schön es hier ist, er kennt es.
Und dann glitt ich tatsächlich langsam auf die Knie, machte mich klein, um ganz die Perspektive eines Kindes einzunehmen.
Ja.
Ich schaue mich um, schaue herauf.
Ja.
Genauso war es, so sah es aus, als ich ein Kind war.
Für Sekunden bin ich dieses Kind.
Zum Glück bin ich allein. Kein Chinese sieht diesen merkwürdigen Ausländer, der auf den Knien mit nassen Augen auf eine alte Pagode starrt. Wahrscheinlich würden sie ihn lieben.
Deshalb bin ich hier. Ich bin hier, um mich zu finden, mir treu zu bleiben und mich dabei neu zu erfinden. Um zu finden, was ich verlor, und zu erreichen, was ich noch nicht hatte, dazu bin ich hier.