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Arbeitstitel: Blaubeere

Eigentlich wollte ich diesen Blog »den langen Marsch nach Guangzhou« nennen, oder »die Welt ist im Wandel und ich gehe nach Guangzhou«. Was mein Privatleben angeht, habe ich halt einen Hang zu Dramatik. Bevor ich jetzt von Blaubeere spreche, erzähle ich mal, wovon ich sonst noch so alles schreiben wollte. 

Ich denke, dass ich nicht erklären muss, warum ich meine, dass die Welt im Wandel sei. Trotzdem komme ich später noch einmal darauf zurück: Klugscheißer machen sowas.

Der Titel »der lange Marsch nach Guangzhou« bezog sich darauf, dass ich schon seit ungefähr 5 Jahren in diese Stadt will, aber immer noch nicht ganz hier bin.

Das 1. Mal war ich wahrscheinlich 1981 in Guangzhou. Damals hat die Stadt gar keinen Eindruck auf mich gemacht: ich habe keine Erinnerungen an sie. Allerdings war dieser Besuch ein Moment jener großen Asienreise, die meine Mutter mit dem 5-jährigen Kalle machte und die auch mich gemacht hat. 

Zwar denke ich heute, dass wir meist selbst entscheiden, was uns prägt und voranträgt, als dass es Ereignis ist, das über uns gekommen war, aber diese – möglicherweise falsche – Erkenntnis ändert nichts daran, dass ich erst ein depressiver Teenager und später ein dauerbesoffener Mittzwanziger war, der stets den Wunsch hatte, weg und am besten nach Asien zu gehen. Was es war, das mich unglücklich machte, beschreibe ich nicht: nichts ist so uninteressant wie Probleme von gestern.

Ich machte zwar des öfteren lange Reisen aber erst 2013 floh ich ohne Rückflugticket nach China. Ich glaube, es war im Frühjahr 2015, als ich mit einem Freund nach Guangzhou ging, weil wir planten, dort zusammen eine Schule zu gründen. Wir entschieden uns dann gegen die Gründung. Hauptsächlich weil ich Angst hatte, dass so etwas meine geplante Weiterreise in andere asiatische Länder verhindern würde. Aber auch wenn ich damals statt nach Guangzhou nach Nanjing ging, hatte mich die Stadt am Perlfluss beeindruckt. Das aber hauptsächlich nur, weil hier tropische Bäume wachsen, das Wetter auch im Winter warm und das Essen immer gut ist. Jedenfalls war für mich seitdem Guangzhou Option Nummer 1, wenn es darum ging, mir einen neuen Job zu suchen.

Aber erst 2019 unterschrieb ich einen Vertrag für Guangzhou  und erst im März 2020 kam ich hier an.

Sowas wollte ich schreiben und finde es heute langweilig.

Nun bin ich hier, aber hatte noch kaum Gelegenheit die Stadt besser kennen zu lernen. Warum das so ist, warum alle Menschen zu Hause bleiben, weiß jeder. 

Es geht ein Virus um die Erde und wir halten hinter unseren Wohnungstüren den Atem an. Ende 2019 war ich noch an einer Schulgründung in Changsha beteiligt, genauer gesagt zusammen mit einer Kollegin und Freundin als Schulleitung angestellt. Als dieses Schulprojekt plötzlich beendet wurde, da sich die Schulgründer zerstritten hatten, waren wir wie vor den Kopf gestoßen. Heute erscheint mir das Jahr 2019 wie eine Geschichte aus einem anderen Leben und das Scheitern der Schulgründung nichtig. Ich wusste damals sofort, dass ich wegen Ting weiterhin in China bleiben wollte, auch wenn ich immer davon geträumt hatte, noch in anderen Ländern Asiens zu leben. Ich verlangte aber von ihr, nach Guangzhou mitzukommen.  

Hier begann das lange Warten. Mal schaffte mein alter Arbeitgeber nicht, diese und jene Papiere zu besorgen, dann brauchte die neue Schule weitere Wochen, um einen Arbeitsvertrag aufzusetzen. Am meisten störte mich damals, dass ich selbst gar nichts machen konnte. Mir war, als sähe ich dem langsamsten und langweiligsten Tennisspiel der Weltgeschichte zu. Das war ja nicht mein 1. Rodeo. Es war, um genau zu sein, mein 4. Jobwechsel in China. Und bis dahin hatte ich mit dem Wechselprozess wenig zu tun gehabt. Bis damals hatten sich der alte und der neue Arbeitgeber die Papiere zugespielt und ich bekam einen neuen Stempel in den Pass.

Ting war zwar bereit, mit mir nach Guangzhou zu kommen aber sie hatte auch mit ihren Eltern über mich gesprochen, so dass wir zum Frühlingsfest bei ihnen eingeladen waren. Wir wollten ihre Familie für eine Woche besuchen und blieben dann – Corona sei Dank – anderthalb Monate.

All dies steht ja in den letzten beiden Texten, die ich hier hochlud. Diese Zeit werde ich nie vergessen: im Guten wie im Schlechten. Ich habe ja nun wirklich schon einiges erlebt. Ich war in den achtzigern in Indien, in den frühen neunzigern lebte ich in Berlin, ich lebte fast 2 Jahre in Jerusalem, ich verbrachte fast ein halbes Jahr als Moslem auf Sansibar und ich habe noch vielen anderen Scheiß gemacht. Auch in der Zeit, in der ich so versoffen war, das ich am Wochenende eine Pause vom Alkohol brauchte, wurde es selten langweilig. Dieser Monat im Tanghaus war aber in Zeitunion eine der interessantesten, schönsten, langweiligsten und anstrengendsten Perioden meines Lebens.

In dieser Zeit, begann ja auch der Katastrophenfilm, der langsam vor unser aller Augen abläuft und in Zeitlupe zeigt, wie sich die Welt verändert. Die einen hoffen, dass uns diese Pandemie eine Chance bietet, unsere Welt zum Besseren zu verändern, die anderen meinen, dass sie Brandbeschleuniger sein wird, welcher aus schlimm katastrophal macht. Sicher ist, dass Pandemien immer zu den Reitern der Apokalypse zählten, die im Verbund Zivilisationen vernichteten. Wobei vernichten letztendlich immer verändern bedeutet. Denn wir – die Menschen – sind ja immer noch hier. Und so schrecklich auch ist, was passiert, so gespannt verfolge ich es doch.  

So sehr mich auch die Weltpolitik gefangen nahm, während ich bei den Tangs wohnte, sehnte ich mir auch meinen eigenen Alltag zurück. Im Haus der Tangs durfte ich nicht so lange schlafen, weil sich das für einen Schwiegersohn nicht gehörte und sollte gleich nach dem Aufstehen frühstücken. Schlag auf Schlag folgten dann Mittagessen und Abendessen und dazwischen hatte ich wenig Zeit zum Schreiben, durfte nicht spazieren gehen, weil die Nachbarn Angst vor Ausländern hatten. Die Zeit reichte meistens nicht einmal dazu, die letzte Mahlzeit zu verdauen.

So war ich glücklich, als ich 5 Jahre und anderthalb Monate später, als ich wollte, endlich nach Guangzhou ging. 

Allerdings ging ich nach ohne in anzukommen.

Ich hatte für die ersten zwei Wochen in der Stadt Stubenarrest. Ich durfte von Amts wegen das Haus nicht verlassen. Jeder, der damals aus einer anderen Provinz oder gar dem Ausland nach Guangzhou kam, musste – und muss – erst mal in eine 2-wöchige Heimquarantäne. Vor dieser hatte ich große Angst, aber ich überstand sie nicht nur problemlos, sondern genussvoll. Aber dazu später mehr. Zunächst einmal muss ich über China berichten, dass ich zwar keine Massengräber gesehen habe, dass es wirklich so zu sein scheint, dass dieses Land die Pandemie besser gemanagt hat als die meisten europäischen Länder und die USA, dass das Leben trotzdem oder eher, damit es so bleibt, noch nicht zur Normalität gefunden hat.

Wohngebiete darf nur betreten, wer dort wohnt oder geschäftlich dort zu tun hat. Dies wird per Ausweis und App kontrolliert. D. h., dass man, wenn man durch die Stadt geht, früher oder später eine Straßensperre findet, durch die man nicht durchkommt. 

Wer kann, arbeitet immer noch von zu Hause aus. Die Schulen und Universitäten Kantons habe  nicht wieder eröffnet. Die Schüler und Studenten bleiben zu Hause. Ich selbst muss bis Ende Juni online unterrichten. Jeder trägt eine Maske und wer sie absetzt, bekommt Ärger. Restaurants sind wieder geöffnet, aber nur jeder 2. Tisch darf besetzt sein, damit zwischen den Gästen Abstand besteht. Ketten wie McDonald’s oder Starbucks bieten ihre Waren nur zum Mitnehmen an. 

Ich muss mich auf verschiedenen Apps täglich melden und schreiben, ob ich gesund und wo ich bin. Dass dies mehrere Apps sind, liegt daran, dass die eine von der Universität, für die ich arbeite, gemacht wurde und die andere staatlich ist.

Dies würde schon genügen, um mir das Ausgehen zu verleiden. Hinzu kommt noch, dass zunehmend Gerüchte die Runde machen, dass die Ausländerfeindlichkeit in China zunehme. 

Meistens sind es Berichte darüber, dass Ausländer in Restaurants nicht bedient werden oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Gebäuden verwehrt wird. Aber es machen auch Videos die Runde, die polizeiliche Übergriffe zeigen. Allerdings muss man dazu sagen, dass bei diesen Übergriffen wahrscheinlich zugrunde lag, dass die betroffenen Ausländer nicht kooperieren wollten, d. h. sich nicht an die Vorschriften zum Seuchenschutz gehalten haben. Ich habe noch nichts dergleichen erlebt und merke nur, dass mich die Chinesen auf der Straße nun nicht mehr neugierig und freundlich sondern ein wenig ängstlich ansehen. Das kann ich verstehen, denn es ist mir nicht auf die Stirn gestempelt, dass ich schon seit Jahren in China und gesund bin. Außerdem fällt mir auf, dass ich auf einmal auf der Straße mehr Platz habe. Die Chinesen gehen mir aus dem Weg. Das ist ein Fortschritt, denn früher standen sie mir im Weg. Tatsächlich verging in meinem ersten Jahr in China kein Tag, ohne dass es in mir kochte, weil mir irgendwer auf aufdringliche Art im Weg stand. 

Nach 6 Jahren im Land verstehe ich China und die Chinesen immer noch nicht, aber noch weniger verstehe ich auch die Deutschen, die schon nach kurzer Quarantäne fordern, diese wäre zu beenden. Besonders verstehe ich dies dann nicht, wenn ich mir anschaue, mit welcher Geduld in China die Vorgaben zur Eindämmung der Pandemie von der Bevölkerung umgesetzt werden. Ich bin selbst so ein Querkopf, dass individuelle Freiheiten für mich lebenswichtig sind. Wenn jetzt aber argumentiert wird, dass wir unsere bürgerlichen Freiheiten dem Seuchenschutz opfern würden, bin ich fassungslos. Denn diese „bürgerlichen Freiheiten“, die geschützt werden sollen, sind nicht die Freiheit der anderen, sondern eher Quengelei von Wohlstandskindern, die ihre 1. Welt Probleme zurück haben wollen. Diese Bälger entlarven sich selbst, wenn sie vorschlagen, dass nur die Risikogruppen isoliert werden sollten, dann zeigen sie nämlich, dass es ihnen mitnichten um die Freiheit aller Menschen geht, sondern nur um die eigene Bequemlichkeit.

Wütender noch werde ich, wenn Politiker und Wirtschaftsfachleute davon quasseln, dass wir der Quarantäne nicht das Wirtschaftswachstum opfern dürften. D. h. nämlich nichts anderes, als dass Wohlstand der einen wichtiger wäre, als das Überleben der anderen.  

Aber ich bin es gewöhnt, vieles von dem, was andere Leute so machen oder lassen, nicht zu verstehen. Und nun verändert sich diese Welt, die ich doch nie ganz verstanden habe, auch noch. Ich finde das Studium der Geschichte, der Soziologie und der Psychologie hochspannend. In meiner Freizeit lese ich mit laienhaftem Interesse darüber. In diesen Tagen ist die Zeitungslektüre ein Genuss, wenn auch ein erschreckender. 

Abgesehen von meiner neuen Heimatstadt und der veränderten Welt, wollte ich davon erzählen, dass Ting schon immer immer ein Mensch war, der wochenlang zu Hause bleiben konnte und daher Quarantäne-geeignet ist.  

Ich hingegen sah mich immer als Menschen, der täglich an die frische Luft muss. Allerdings ist der Zeitgewinn, wenn man nicht zur Arbeit gehen muss, immens. Zwar unterrichte ich und muss das auch, denn wir brauchen Geld, aber ich unterrichte von zu Hause aus und könnte das für den Rest meines Lebens so halten. Ich kann endlich all die Dinge täglich tun, für die seit Jahren kaum Zeit fand.

Ich schreibe endlich an meinen Romanideen und glaube das 1. Mal daran, einen davon zu beenden.

Außerdem züchte ich Sauerteig und Ingwerbier und habe allgemein das Zubereiten von lebender Nahrung für uns entdeckt. Ting ist mit dabei und züchtet chinesische Probiotika. Wir kochen viel und füttern einander. Negativ ist mir dabei nur aufgefallen, dass ich, ein Deutscher, der meint, kochen zu können, mit einer Chinesin zusammen wohnt, die meint, nicht kochen zu können und der schlechtere Koch bin.

Eigentlich wollte ich also viel davon erzählen, wie ich, anstatt mich am politischen Diskurs zu beteiligen, koche, und dass ich manchmal 2 Std. brauche um von der Dusche zum Kaffee zu kommen, weil ich mich zunächst um verschiedene Hefekulturen kümmern oder an langfristigen kulinarischen Experimenten arbeiten möchte.

Stattdessen möchte ich Euch von Blaubeere erzählen.

Unser Glück wurde eigentlich nur dadurch getrübt, das Ting immer launenhafter und ich immer ungeduldiger mit ihr wurde. Ich sah die Ursache dafür nun doch in der Quarantäne, also darin, dass wir zu wenig Abstand voneinander hätten. Denn früher hatten wir uns zum einen während der Arbeitszeit wenig gesehen und hatten zum anderen durchaus unterschiedliche Interessen und Freundeskreise. Dass wir nun aber in einer neuen Stadt die Wohnung nicht verlassen durften und auf uns begrenzt waren, barg Streitpotenzial. Ich fand die ganze Zeit, dass wir erstaunlich gut miteinander auskämen und war von ein paar bilateralen Zickigkeiten nicht überrascht.

Als Ting dann aber begann, Eis statt Fleisch zu essen, wurde ich das 1. Mal nachdenklich. Nervöser wurde ich noch, als sie manchmal nur noch Reis mit Gemüse essen wollte. Als sie sich dann morgens übergab, war ich mir sicher. Allerdings brauchte ich noch 3 Tage, um sie davon zu überzeugen, einen Schwangerschaftstest zu machen. Während des Testes war ich sehr nervös und Ting hatte danach große Angst. Es ist ja auch nicht die beste Zeit dafür, ein Kind zu bekommen. 

Ting ist arbeitslos und somit nicht krankenversichert. Wir müssten also eine private Krankenversicherung für sie abschließen. Und dann ist ja da noch der böse Virus, der, da bin ich mir sicher, nächsten Winter eine erneute Runde um die Welt drehen wird. Es ist keine Zeit für Krankenhäuser. 

Allerdings wollen wir beide ein Kind und bis dieser Virus ganz verschwindet, wird es noch etliche Jahre dauern. Das war also so ein klassischer Fall von Verstand gegen Gefühl, aber ich ahnte schon, dass mein Gefühl stärker war. Zumindest ich wollte das Kind, das war überraschend schnell klar.

Und Ting eigentlich auch, ihre Angst war noch größer als meine, was verständlich ist, denn sie war ja schwanger. Wir gingen dann ins Krankenhaus, um einen 2. Test zu machen. Der Besuch im Krankenhaus zeigte, dass die Coronakrise in China  nicht vorbei ist. Anmelden musste man sich per App und ich durfte nicht alle Bereiche des Krankenhauses betreten. Der Ultraschall zeigte, dass Ting schon in der 6. Woche war. Während sie noch einmal zu einem anderen Arzt ging, verblieb ich im Wartezimmer und tat, was so jeder verantwortungsbewusste Vater macht: ich googelte. Dabei las ich, dass in der 6. Woche das Herz des Embryos schon schlägt. Ich war überrascht und glücklich und überrascht darüber, wie glücklich ich war.

Aber gleichzeitig begann die Angst, dass dieses Herz aufhören könnte zu schlagen. Da wusste ich, dass ich mich schon entschieden hatte.

Die nächsten Tage habe ich mich verhalten wie ein klischeehafter Trottelvater aus einer schlechten  Komödie. Ich umsorgte und versorgte Ting, so gut ich konnte, was ihr gefiel, fragte sie aber auch alle 5 Minunten, ob es ihr gut ginge, was ihr auf die Nerven ging. Um meine eigenen Fragen zu beantworten und Ting seltener in ihren Schwangerschaftsleiden zu unterbrechen, las ich viel über Schwangerschaften. Dabei las ich auch, dass unser Kind in der 6. Woche ungefähr so groß ist wie eine Blaubeere. Damit hatte das Gör seinen 1. Spitznamen weg. Was gut ist, denn Ting stört die Frage »geht es Dir gut?« mehr als die Frage »wie geht es Blaubeere?«

Plötzlich hat sich der Fahrplan meines Leben anders entwickelt und 2020 hat nicht nur die Welt sondern auch unser Leben verändert. Wichtig ist nicht mehr die Frage, wann die Welt wieder eröffnet, sondern das Blaubeere gesund auf die Welt kommt.

Aktuell ist aber eigentlich alles gleich geblieben, Ting hat eine wunderbare Ausrede dafür, jeden Morgen zu verschlafen. Das hat sie schon immer gern getan, aber ein guter Grund ist trotzdem schön. Ich koche nach wie vor sehr viel, achte aber jetzt auf Folsäure und Eisengehalt. Manchmal haben wir beide große Angst vor der Zukunft und dann freuen wir uns darauf, d. h., wir sind jetzt schon typische Eltern. Ich mache mir auch jetzt schon meine Gedanken, wie ich mein Kind und mich selbst unter einen Hut bekommen kann. Ich freue mich zwar sehr darauf, Vater zu werden, möchte dabei aber Kalle bleiben. Einer meiner Vorsätze dazu ist, bis zum Geburtstermin auch meinen ersten Roman fertig geschrieben zu haben. Das ist nicht nur ein wenig größenwahnsinnig, sondern auch insofern gut, dass ich weniger Zeit habe, Ting auf die Nerven zu gehen.

Natürlich reden wir viel über die Zukunft.

Bisher dachte ich ja immer, dass die Geburt eines Kindes für mich bedeuten würde, so langsam meine Rückkehr nach Deutschland zu planen, weil dort das Leben immer noch sicherer und besser wäre. Das war falsch. Vielleicht sollte ich doch lieber in einem Land verbleiben, in dem der Schutz von Leben über das Wirtschaftswachstum gestellt wird. Ich möchte nämlich nicht, dass Blaubeere in einem Land aufwächst, in der jede Solidarität in den Wind geschossen wird, sobald der Lebensstandard zu sinken droht.

Natürlich könnte ich ja auch konservativ argumentieren, auf meinen Eigennutz pochen und sagen, dass die 1. Welt heutzutage in Ostasien liegt und ich den Wohlstand, an den ich mich in China gewöhnt habe, in Europa vermissen würde.

Letztendlich freue ich mich aber einfach nur auf Blaubeere und möchte, dass sie sich damit wohl fühlen wird, Chinesin und Europäerin zu sein.

Ting verlangt, dass ich immer von »ihr« spreche, weil sie hofft, so eine Tochter beschwören zu können.

Seitdem ich das alles da oben geschrieben habe, sind schon wieder 2 Monate vergangen. Weil Ting nicht wollte, dass ich unser Glück und unsere Angst zu früh in die Welt hinaus posaune, habe ich diesen Text noch nicht hochgeladen. Ein paar von Euch wissen vielleicht schon, dass ich bald Vater werde. Aber andere sind sicher überrascht.

Ich selbst bin ja auch immer noch überrascht. Ich bin überrascht davon, wie sehr ich Blaubeere jetzt schon liebe. Schwangerschaften waren bisher für mich etwas ganz normales, das anderen Leuten hin und wieder geschieht. Da ich aber selbst beteiligt bin, erscheint es mir wie das größte Wunder der Menschheitsgeschichte, das um den 12. Dezember herum ein Kind auf die Welt kommt. Es überrascht mich noch mehr, dass es mir Spaß macht, Kinderklamotten shoppen zu gehen.

Scheiß auf Objektivität!

Mein ungeborenes Kind hat mich jetzt schon verändert. Ich bin disziplinierter und schreibe noch mehr. War ich bisher in finanziellen Dingen eher sorglos, versuche ich nun eine Zukunft für 3 zu planen. Für Ting ist es zurzeit natürlich schwierig, eine neue Arbeit zu finden. Zum einen ist sie schwanger, zum anderen ist da immer noch eine weltweite Pandemie.

Mein Gehalt ist für mich alleine gut, für 2 genug, aber für 3 wird es knapp. Auch wenn ich zurzeit anders über die Zukunft denke, als in den letzten 44 Jahren, bin ich eigentlich optimistischer als üblich. Wahrscheinlich wird es in den kommenden Jahren eher weniger Ausländer in China geben, sodass es mehr Jobmöglichkeiten für mich geben wird. 

Ganz aktuell sind wir auch mehr mit dem Papierkrieg beschäftigt, der mit einer deutsch-chinesischen Hochzeit daherkommt. Es ist wichtig, dass wir diesen gewinnen, bevor Blaubeere auf die Welt kommt, denn uneheliche Kinder sind in der chinesischen Bürokratie bisher kaum vorgesehen. Dies wird sich sicherlich in den nächsten Jahren ändern, aber sicherlich nicht bis Dezember. 

Aber ich denke, dass wir bis September alle Papiere zusammen haben und heiraten können. Ihr müsst jetzt allerdings kein Kreuz in Eurem Terminkalender machen, denn im September wird es nur die standesamtliche Heirat geben.

Die Party kommt im Frühjahr 21. Wer von Euch Lust hat, mit uns und Blaubeere im ländlichen Hunan zu feiern, hat also noch etwas Zeit Urlaub und Reisegeld zu sparen.

Naja, ich kann zwar auf die Objektivität scheißen, kann aber auch nur darauf hoffen, das bis dahin die Grenzen wieder offen sind und ein paar von Euch kommen können.




Familienleben und Lagerkoller

Auf den Reisfeldern um das Tanghaus ist die Welt immer noch nicht untergegangen, aber wir gehen uns manchmal auf die Nerven. Um Angst zu bekommen, muss ich in die 5. Dimension eintauchen. Ich habe ja ein schmutziges Vergnügen daran, im Netz dumme Kommentare zu lesen und lese auch heute am liebsten in jenen Gruppen und Strängen, in denen die Schreiber am lustigsten eskalieren. Sehr empfehlen kann ich dazu, die Facebookseite »Shanghaiist«. Der Shanghaiist ist so etwas wie die Bildzeitung für internationale Gastarbeiter in China, die gar nicht in China sein wollen. Schon an normalen Tagen beschreiben die dortigen Artikel vor allem, wie grauenvoll China und insbesondere die Chinesen wären und die Leser glauben alles, was China schlecht macht. Zur Zeit  reichen die Kommentare dort von: »wir werden alle sterben« bis zu »Möge Gott uns retten«. Aber auch, wenn ich gern über diese Eskalisten lache, die wahrscheinlich auf den Weltuntergang warten, weil dann endlich mal was passierte in ihren Leben, ist die Situation nicht komisch. SARS-Cov-2, wie der Virus offiziell heißt, wird wohl um die Welt gehen. Und auch wenn nicht viele erkrankte sterben, werden sich so viele anstecken, das es insgesamt zu vielen Opfern kommen könnte. Der Weltuntergang wird zwar ein Onlinephänomen bleiben, Covid-19 kann aber ein jährliches werden.    

Heute schon hat der Virus oder besser dessen Bohei hüben zu Verwerfungen geführt, über die wir hier drüben stolpern und zusammenstossen, in diesem kleinen Haus muss eine Familie und ein Fremder unerwartete Nähe überstehen. Ich spüre innerhalb meiner neuen Familie keine Angst, bin auch beeindruckt, von der Disziplin, mit der sich die Dorfmenschen voneinander fern halten. Denn sich fernzuhalten, ist sehr unchinesisch. Bei uns heißt es ja immer, Chinesen seien Kollektivmenschen. Man könnte aber auch sagen, dass sie gesellig sind. In meinen ersten Tagen im Tanghaus hatte ich das Gefühl, dass es nur Türen habe, um sie den Gästen aufzuhalten. Es war ein stetiges Kommen und Gehen, Reden und Lachen. Das ist vorbei. 

Allerdings sind wir nicht ganz allein, denn das Tang Haus steht nicht ganz allein. Es hat einen Nachbarn: Es ist noch ein Tanghaus!

Das zweite ist eigentlich das erste Tanghaus, denn es ist älter. Dort wohnte einst Tings Großmutter, heute lebt dort ihr jüngster Onkel samt Familie. Onkel Mao ist der Handwerker und Schlachter der Familie. Ein hagerer Mann, der gerne, lacht, spielt und raucht. Seine Frau heißt Chong und sie lacht noch mehr, sie hat die Kunst gemeistert, zugleich zu lachen und zu sprechen. Wann sie atmet, weiß ich nicht. Ich mag die beiden, sie lassen sich vom Leben die Freude nicht nehmen. 

Die beiden haben 2 Töchter. Die größere heißt Qian und ist 14 Jahre alt und verhält sich auch so: sie bleibt meist auf ihren Zimmer. Außerdem ist sie adoptiert.

Die kleinere heißt Jen Jen, ist eine künstliche Befruchtung und ein wenig jünger als Tian Tian. Jen Jen ist ein unglückliches Kind. Sobald Tian Tian ihr ein Spielzeug wegnimmt, sobald ihr Lieblingsessen alle ist, sobald etwas unerwartetes geschieht verharrt Jen Jen, lässt ihr Lächeln fliegen, erstarrt und wendet das Gesicht zur nächsten Wand. Wenn dann jemand oder ich mit ihr spreche, schaut sie nur zu Boden und schüttelt ihr Haupt. Wenn man dann aber bei ihr bleibt, merkt sie das. Kürzlich durfte ich sie das erste mal auf den Arm nehmen. 

Außer den zwei Tangfamilien und dem Virusschatten leben hier noch 20 Hühner und eine weiße Hündin mit ihren 3 Welpen. Die Hündin hat keinen Namen und darf nie ins Haus, sie und ihre Kinder wohnen bei den Hühnern. Sie wird nicht einmal gestreichelt und ich sagte Ting, dass Chinesen sehr gemein zu Tieren wären.

Seitdem ich weiß, dass Covid-19 für Kinder kaum gefährlich ist, habe ich weniger Angst. Nichtsdestotrotz komme ich beim Schreiben und auch im Leben hier, immer wieder auf den Virus zurück. Anders als in den Städten bestimmt oder beendet er den Alltag hier nicht. Covid-19 ist eher wie ein beständiger Störton, so als hätte der Tag Tinnitus. 

Morgens erwache ich gegen 7 Uhr, was spät ist, für mich, aber auch meine innere Uhr scheint verstanden zu haben, dass es nichts zu tun gibt und lässt mich den Morgen verschlafen. wenn ich dann erwache bleibe ich oft liegen. Über der Decke ist es kalt aber unter der Decke liegt Ting und ist warm. Dann höre ich unter der Decke ein Hörbuch, lerne chinesisch, checke aber zuerst die Infiziertenzahlen. 

Wenn wir herab gehen, erwartet uns Mutter Zhang mit dem Frühstück und vorwürfen, weil wir so spät aufstehen. Eigentlich habe ich mir Frühstücken abgewöhnt und genieße nichts zu essen genauso sehr wie gutes Essen. Aber eine Mahlzeit auszulassen ist im chinesischen Katalog des Schlechten das Schlimmste. Deshalb esse ich alles, was Mutter Zhang mir gibt. Ting meint, dass ihre Mutter normalerweise nur für Mittagessen und Abendbrot zuständig ist und ob ich mir mein Frühstück nicht selbst machen könne. Es sieht so aus, als müsste ich mir, das Frühstück, dass ich nicht essen will, bald selbst zubereiten. Die 2. Todsünde im chinesischen Katalog ist es, eine Mahlzeit zu verschieben, deshalb folgt auf ein spätes Frühstück schnell das pünktliche Mittagessen: das Leben hier besteht größtenteils aus Mahlzeiten, die nicht nur lecker und zahlreich sondern leider auch groß sind. Bevor mich irgendein Coronavirus findet, platze ich wahrscheinlich. Das wäre auch ein Tod, der gut zu mir passte. 

Vielleicht ist es aber auch der Plan meiner Schwiegereltern, mich zu Tode zu füttern? Vielleicht ist es eine alte chinesische Landtradition. Der Verlobte wird gemästet und in der Hochzeitsnacht beißt die Braut dem Bräutigam den Kopf ab  und die Familie verspeist ihn.

Wenn ich aber bedenke, was hier jeden Tag auf den Tisch kommt, dann scheint mir, dass mir das auch geschehen kann. 

In jeder Familie wird aber nicht nur essen, sondern auch Klatsch und Gerüchte serviert. Von diesem Gericht, auf das nein Hunger groß ist, bin ich lieder ausgeschlossen. Das liegt zum größeren an meinem schlechten chinesisch und zum kleineren Teil  an dem Hunandialekt der Tangs. Normalerweise bin ich derart introvertiert, dass es mich kaum stört, mit niemanden reden zu können. Jetzt geht mir aber, die klare Rollenverteilungen: die Tangs reden und ich verstehe nichts, auf die Nerven. Ich möchte zur Zeit nicht nur Online lesen, was in China geschieht, sondern auch wissen, ob es in meiner Nachbarschaft Gründe gibt, Angst zu haben. 

Ting übersetzt mir nur hin und wieder Informatiönchen. 

Wie sprechen von der Kindheit – sie sagen, du seist sehr groß. 

Meistens gibt es nur 1 oder 2 solcher Schnipsel pro Mahlzeit. 

Was ich so erfahre richtet sich leider nicht nachdem, was ich wissen möchte, sondern mehr danach, worüber die Tangs sprechen und am meisten danach, was Ting mir übersetzen will.

Zum Frühstück gibt es Nudeln und Ting übersetzt: »Mama hat vor zwei Wochen einen Mann aus Wuhan getroffen und macht sich jetzt sorgen«.

Während des Mittagessens schaut links ein Hühnerkopf und rechts zwei Hühnerfüße aus dem Suppentopf, ich erfahre: »Ein Kollege des Vaters ist seit ein paar Tagen spurlos verschwunden«.

zum Abend gibt es Schildkröte. Das Fleisch ist eine merkwürdige Mischung aus Glibber, zäh und Knochen und schmeckt trotzdem. Jedes Stück sah leicht außerirdisch aus. Nie wusste ich, ob ich Muskeln, Haut oder Organ esse. Oft fragte ich daher Ting Ting: »Kann man das essen?« immer sagt sie genervt »ja«. Einmal beschaute sie danach ein Stück Schildkröte, dass sie sich selbst genommen hatte, kam schnell zum Schluss, dass es ihr nicht gefällt, legte es in meine Schüssel und sagte: »Dieser Kollege hatte hohe Spielschulden und sei deshalb weggerannt«

Beim Nudelfrühstück: »Die Dorfbewohner sind neugierig auf dich« und »Eine Familie, in der einer in Wuhan arbeitet, steht unter Hausarrest, bisher ist aber niemand krank. Die Familie selbst hat ihren Wuhanheimkehrer in dessen Schlafzimmer eingesperrt«. Diese chinesischen Quarantänen scheinen die Form von russischen Matrjoschkas anzunehmen

Zum Abendessen gibt es ungelegte Eier in Hühnerblut, ich höre: »der verschwundene Kollege wurde gefunden. Seine Leiche trieb im Stausee. Er hat sich wohl wegen seiner Spielschulden umgebracht«

Insgesamt ist mein Eindruck, dass die Tangs recht wenig Angst und viele andere Themen und mich noch nicht im Schlafzimmer eingesperrt haben. Das sind gute Zeichen, denke ich.  

 Zwischen die Mahlzeiten presse ich, was ich tun möchte: Schreiben und heimliche Spaziergänge. Meine Hauptbeschäftigung und Dolmetscherin bleibt aber Ting Ting. Ich las meinen letzten Blogeintrag noch einmal und befürchte, dass ich hier ein wenig unrecht tat, es stimmt zwar: sie trägt Seidenkleider, sie flucht, sie ist stur, jedoch ist sie keine vor sich hinfluchene Willensmaschine. Die meiste Zeit über ist sie still. Sie ist ein schüchternes Wesen und hat Angst ihre Meinung zu sagen, auch Ihre Verweigerungen sind meist still. Verdammt sie kann sogar still fluchen! 

Ting ist oft still, weil sie traurig ist und ich habe den Eindruck, dass ihr auf ihrem Weg ein Unglück widerfahren ist, von dem sie schweigt. Ich denke nicht, dass es ein singuläres Ereignis, war sondern der Druck ist, erfolgreich und glücklich zu sein, denn wer bei all den Luxusgütern und dem Arbeitsspaß nicht glücklich erfolgreich ist, der ist selber Schuld. Das ist zumindest der Narrativ in den Köpfen so mancher.

Ich wiederum bewundere Ting dafür, was sie erreicht hat. Den sie war die 1. aus ihrer Familie, die den Gaokao bestand und studieren konnte. De erste die ins Ausland ging: die erste die vom traditionellen Trampelpfad wich und ohne Kompass  durchs Leben stolpert. Sie ist aber oft traurig mit sich. Das bricht mir das Herz ich sähe sie gern ein wenig glücklicher und versuche sie glücklich zu machen. Leider hilft es nicht, miteinander eingesperrt zu sein. Besonders in den letzten Tagen stritten wir über Dinge, über die wir sonst lachen.

bdr

Ich habe durchaus Probleme mit dem Quarantäneleben und rutsche immer wieder in einen Lagerkoller, das besonders an Tagen, die so kalt sin, dass mir sogar die Reisfelder als letztes Versteck verschlossen sind. Das Haus hat 10 Zimmer. darunter sind 9 Zimmer Arschkalt und eines immer voll. Ich hasse die Kälte und bin introvertiert. Insgesamt bin ich erstaunt, dass ich nicht täglich eskaliere.

Stattdessen lerne ich Dinge – wie z.B. Schreiben – von denen ich dachte, dass ich sie nur tun kann, wenn ich ganz allein bin, unter den Tangs zu tun. Sie zu tun, während Tian Tian meinen Namen ruft, weil ich mit ihr spielen soll; Jen Jen möchte, dass ich sie in die Luft werfe; Papa Tang Videos auf seinen Handy schaut, ohne einen Kopfhörer zu benutzen; Ting Gemüse wäscht und mich böse anschaut, weil ich es nicht tue; Mama Tang mit Schwägerin Tang Karten spielt und eine Ente auf dem Hof entrüstet schnattert, weil Lehrer Tang und Onkel Mao dabei sind, sie umzuschubsen. Das ist Familienleben: Großfamilienleben. Hätten die Verwandten kein Besuchsverbot, es wäre noch mehr los. 

Der Ort an dem all dies geschieht, ist das eine Zimmer, das geheizt ist. Wobei »geheizt« einer Eingrenzung bedarf. Geheizt ist nur der Tisch, der an der Nordwand zum Hinterhof und Hühnerstall hin steht. Hier essen wir und hier sitzt jeder, der keine ander Aufgabe hat. Es ist ein roter runder Tisch und statt Tischbeinen hat er einen Ofen. Die Tischfläche besteht aus 3 Kreisen. Auf der äußeren, kann jeder seine Teetasse, Reisschüssel oder sonst was abstellen, der mittlere Kreis ist drehbar und hier stehen zu den Essenszeiten die Speisen, der innerste Kreis ist ein Loch über dem Ofen, in welches man schmeißen, was man verbrennen oder auf das man stellen kann, was man kochen will. Meist steht dort ein übergroßer Teekessel. 

An diesem Tisch sitzen wir alle und ich schreibe hier. Da ich meinen Computer nicht auf eine Tischplatte stellen möchte, die im Laufe des Tages immer heißer wird, steht er auf einem Hocker und ich sitze im Profil zum Tisch, weshalb meine Rechte Seite verbrannt und meine Linke durchgefroren ist. Der Raum in den der Tisch steht, habe ich die gute Stube getauft. Das ist nicht sonderlich originell. aber ich konnte mir unter der »guten Stube« bis jetzt nicht vorstellen. Im Haus der Tangs ist die gute Stube ein Allzweckswohnarbeitszimmer. Wände und Boden sind nackter Beton und die Decke Holz. Links des Tisches liegt Kleinholz, hier kann, wer soll, Holzhacken. Ein einziges Mal sollte ich können, konnte aber nur so langsam hacken, dass ich nie wieder sollte. So hacke ich nicht sitze aber stets in der Nähe des Holzhaufens, der hin und wieder von einem Tang mit der Axt und manchmal auch mit einer Motorsäge bearbeitet wird. Ich beobachte den Holzpegel genau, wenn er mir zu niedrig scheint, versuche ich sehr beschäftigt mit Tian Tian zu spielen, damit auch wirklich niemand auf die Idee kommt, mich hacken oder sägen zu lassen. Vom letzten Hacken hatte ich 4 Tage lang Rückenschmerzen. Einmal als Lehrer Tang mit der Motorsäge zu Gange war, meinte meine Ting, dass ich ihm helfen solle. Also stellte ich mich ängstlich daneben, befürchtete jemand gäbe mir die Säge und stellte mir vor, wie es sich anfühle, sich ein Bein anzusägen. Ich möchte nicht ins Krankenhaus. Hier auf den Land sind nur Hunde, Hühner, Enten und. Covid-19 ist ja keine Vogelgrippe. Im Krankenhaus aber sind fremde Menschen und die könnten ansteckend sein. 

cof

Lehrer Tang und Schwägerin Hui fahren oft mit Tian Tian Die Hui Hälfte der Familie besuchen. Vater Tang muss arbeiten. Wir anderen bleiben zu Hause und versuchen, die Zeit zu vertreiben. 

Ting und ich haben ein Brettspiel mitgebracht und so sitzt oft die ganze Familie zusammen und spielt die Siedler von Katan. Besonders Onkel Mao und Schwägerin Hui lieben das Spiel. Eine Seuche zum Katanmarathon zu machen, finde ich gut, was mich aber stört ist dass Schwägerin Hui jede Partie gewinnt und dass die Familie meint, man könne nicht spielen, ohne zu essen. ich mag nicht mehr essen, wenn ich hier raus bin, werde ich fasten. Allerdings sind sie Snacks die es zum Spiel gibt, sehr gut. Es gibt Mandarinen, Apfelsinen und Nüsse. Dazu serviert Mutter Tang selbstgemachte Süßkartoffelchips. 

Manchmal gehe ich mit Lehrer Tang fischen. Wenn wir im nahegelegenen Bach fischen, schnallt sich Lehrer Tang eine Autobatterie auf den Rücken. In der einen Hand nimmt er einen langen Stab, an dessen Ende Elektroschocker stecken. In der anderen Hand hat er eine Art Schmetterlingsnetz, mit dem er die geschockten Fische einsammelt. Die Methode scheint mir brutal, aber weil ich Aal bekomme, sage ich nichts.

Wenn wir im Familienfischteich fischen, dann angeln wir. Bei der Gelegenheit sitzen wir schweigend nebeneinander. Manchmal leistet uns Tian Tian Gesellschaft und schreit, weil es ihr zu still ist. Bienen summen um die ersten Frühlingsblumen und es ist das 1. Mal, dass sich angele und ich liebe es. Stillsitzen und auch Fische warten, scheint zu mir zu passen. Die Gespräche mit Lehrer Tang sind eintönig, da er zwar ein wenig Englisch kann, aber meistens nur 2 Worte benutzt. 

das geht dann ungefähr so  … 

Er: »o. k.?«

Ich: »o. k.!«

Er: »good.«

aber später haben wir noch ein Bier zusammen getrunken, daher gehe ich davon aus, dass wir uns verstanden haben. Irgendwann musste er denn gehen und als ich fragte, sagte Ting, dass er jetzt mit Onkel Mao die Hundewelpen  einsammeln muss. 

Ich machte mir Sorgen und fragte: »Werden sie die Welpen schlachten?«

Ting sah mich schräg an und sagte: »natürlich nicht«

dann vermutete ich, dass sie in einen Sack kämen und im Fischteich landeten. Ting wunderte sich, wo ich solche Horrorgeschichten her hätte und als ich ihr sagte, das in Deutschland Bauern sowas mit einen Welpenüberschuss machten, sagte sie: »ihr Deutschen seid sehr gemein zu Tieren«.  

An den Abenden Versuche ich eine Bildungslücke von Ting zu füllen. Sie hat nämlich noch nie einen einzigen Quentin Tarantino Film gesehen. Wir begannen mi den letzten und sahen »once upon a time in Hollywood. Der Film hat ihr ganz gut gefallen, aber als am Ende die Tarantino typische Gewalt ausbrach, da lachte sie, Sie lachte, wie sie noch nie davon gehört habe, sie lachte wie ein glückliches Kind an Weihnachten. Manchmal macht sie mir Angst. Aber wir schauen jetzt jeden Abend einen Tarantino Film, ich sagte ja schon, ich mache sie gern glücklich und wenn es dazu Gewalt bedarf … Was soll’s!

 eine unserer Filmabende wurde aber unterbrochen. Wie schaut und gerade Django und waren schon im Bett, als Tings Mutter anrief ihr sagte, sie sollte noch einmal zur Familie herabkommen. Mir war klar, das ist ein unangenehmes Thema werden musste und bot Ting an, mitzukommen. Sie meinte aber, das sei keine gute Idee. Ich konnte ihr ansehen, dass ihr ein wenig mulmig war als sie herabging. 

Es war ein altes Thema, das Tings Eltern mit ihr besprechen wollten: die Eigentumswohnung. China ist kein Land von Mietern. Wer sich hier keine eigene Wohnung kauft, der lebt unter der gefühlten Armutsgrenze Chinas. eigentlich muss, wer heiraten will, schon eine Wohnung haben. Allerdings hatte Tings Bruder, als er seine Hui heiratete, keine eigene Wohnung. Daher kaufte ihm Tings Vater eine. Die Tangs wollten nun von Ting wissen, wann und wo wir eine Wohnung kaufen würden und ob meine Eltern dabei helfen würden. 

Es ist eines von Tings größten Zielen, mich dazu zu überreden, eine Wohnung zu kaufen. Ich bin kein großer Freund von der Idee, weil Kredite mir Angst machen. Ting verfolgt denke ich die Doppelstrategie mich zu überzeugen und bei ihren Eltern Zeit zu kaufen. Tings Vater scheint mit der Situation recht entspannt umzugehen aber ihre Mutter ist etwas nervöser und möchte, dass wir bald kaufen. Sie boten sogar an, dass wir, bis wir etwas gekauft haben, in den Hühnerstall ziehen können. Damit mich Ting nicht schlägt, wenn Sie diese Zeilen liest, muss ich meine Worte insoweit korrigieren, dass die Tangs angeboten, dass wir dort, wo der Hühnerstall steht,. Ein Haus bauen können, wenn wir uns nicht leisten können, in der Stadt eine Wohnung zu kaufen. Ich bin zu gleichen Teilen amüsiert, gerührt und erleichtert. Ich freue mich sehr über die Gastfreundschaft aber irgendwann wollte ich eigentlich wieder weg. 

Allerdings verspüre ich auch einen Hauch Erleichterung, der auch meine chinesische Familie den Weltuntergang nicht unmittelbar bevorstehen sieht, dass sie eine mögliche Eigentumswohnungslosigkeit ihrer Tochter stärker fürchten als Covid-19. 

Ich lerne hier viel über Nähe. Covid-19 hat mich stärker in diese chinesische Familie integriert als es das Frühlingsfest gekonnt hätte. Als Einzelkind habe ich noch nie in meinem Leben mit so vielen Menschen unter einen Dach gewohnt. Das letzte mal als ich so regelmässig meine Mahlzeiten mit mehr als einer ausgewählten Person einnahm, war ich auf Klassenfahrt. Das überraschende ist, es gefällt mir. Ich werde zwar introvertiert verbleiben, aber denke, dass ich diesem Familienleben öfter mal eine Chance geben sollte. Gestern aber, als es regnete und ich eingesperrt war, wäre ich am liebsten geflohen, war aber wie alle anderen auch an die Wärme des Ofentisches gebunden. Ich dachte, dass ich diesen Tag nicht überstehen könnte, ohne zu fluchen oder zu weinen und das Ting und ich uns nur deshalb nicht an die Kehle gehen können, weil wir beide mittlerweile ein Doppelkinn haben. 

Aber dann kam Onkel Mao und wir spielten Katan, aßen Süßkartoffelchips und lachten. Der Abend war gut.  




Die Tangs, der Coronavirus und ich

Tang ist Tings Familienname und Ting ist meine Freundin.

Das ist zwar schön aber auch nichtssagend. Also beantworte ich die ungestellte Frage: wer ist Tang Ting und was hat sie mit dem Coronavirus zu tun.
Ting ist – wie die meisten jungen Chinesen ein Sack voller Widersprüche, all die Widersprüche zwischen heute, gestern und Konfuzius. Ting ist natürlich ein edler Seidensack.

Von außen gesehen ist sie eine wunderschöne, kleine, wenn auch für hiesige Verhältnisse nicht winzige Frau mit großen Füßen und schiefen Zähnen, die ihr Lächeln bezaubernd in die Breite ziehen.
In ihr zahnschiefes Lächeln habe ich mich verliebt, als sie mir vor 5 Jahren in einer Bäckerei vorgestellt wurde und schüchtern zu mir herauf griente. Das ist zwar nicht ihre relevanteste Eigenschaft, aber wenn ich sie darauf anspreche, wirft sie mir einen ihrer bösen Blicke zu, von denen ich glaube, dass sie sie erfunden hat und von denen man sagt, dass sie dem Teufel ein schlechtes Gewissen machen könnten und die mehr über sie aussagen, als sie selbst weiß, dass sie nämlich, die sich für schwach hält, stark ist, dass ihre Schwäche eine jener Lügen ist, die Menschen sich selbst erzählen, wenn es Ihnen zu gut geht. Diese ihre Stärke ist schon relevanter.
Ting wäre so gerne eine feine Dame mit Eigentumswohnung, Erst- und Zweitwagen und einer Dauermitgliedschaft in jeder Shopping Mall der Stadt. Aber dazu ist sie viel zu stark und selbstständig. Sie träumt zwar von Chanel und kleidet sich westlich, aber rülpst auch, wenn es ihr passt, was oft geschieht. Danach streicht sie ihr Seidenkleidchen glatt, als sei nichts passiert. Wenn sie beim Essen nicht auf Englisch und Deutsch parliert, spuckt sie Knochenstücke auf den Tisch. Sorry, das war nun völlig irrelevant.

Außerdem schubst sie Hühner um. Nachdem wir nun zusammen wohnten, blieb ich vorerst ein Geheimnis vor der Familie. Aber Ting fuhr oft zu ihnen aufs Land hinaus und brachte, wenn sie zurück kam, einen Sack voller Gemüse, Enten, Hühner, Schmalz und Schweineteilen mit. Lieber noch als das Schmalz war mir die Art, wie sie das Fleisch ankündigte. Sie rief mich dann an und sagte glücklich, heute haben wir ein Hühnchen für Dich umgeschubst. Dies ist eine dieser Aussagen, die man sorgfältig dekonstruieren sollte.

»Heute haben wir ein Hühnchen für Dich umgeschubst.«

Wir heißt, dass Tings Mutter ihren Schwiegerbruder gebeten hat, zu schubsen. Dich heißt hier auf gar keinen Fall mich, sondern sie, also eigentlich, dass Tings Mutter das Hühnchen Ting geben wollte. Umgeschubst heißt geschlachtet. Korrekt wäre also: »Mein Onkel hat ein Hühnchen für mich geschlachtet«.
Auch darüber hätte ich mich sehr gefreut.

Da das Land, auf der Tings Familie lebt, nicht weit entfernt ist von der Stadt, in der wir wohnen, fuhr Ting regelmäßig hinaus und brachte jedesmal Liebesdiebesgut mit. Als unser Tiefkühler zu platzen drohte, fragte ich einmal, ob es nicht genug sei, mit dem Umschubsen aber Ting sagte, dass sie die Geschenke ihrer Mutter nicht ablehnen könne, weil das sonst sei, als lehnte sie ihre Liebe ab.

Da ich die Vorstellung von Ting, die übers Land schlich und Hühner umschubste, liebe, sagte ich ihr lange nicht, dass das richtige Wort »schlachten« sei. Sie war mir dafür lange böse und verlangt nun, dass ich sie immer und sofort korrigiere, wenn sie einen Fehler macht. Ting spricht sehr gut Deutsch, mit dem Wort „schlachten“ aber hatte sie lange Probleme. Zuerst sagte nach meiner Korrektur „umschlachten“ statt umschubsen, später dann rief sie mich an und sagte mir, dass sie ein Hühnchen für mich ermordet hätte.
Normalerweise aber ergänzt sie ihren Fleiß in Bezug auf die Sprachlernerei mit Begabung und lernt neue Worte und Redewendungen schneller, als es mir lieb ist.
Sie wird so langsam zu meinem Sprachklon. Manchmal habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Denn Ting träumt davon, einmal bei einer deutschen Firma zu arbeiten und ich fürchte, sie könnte ihre Karriere zerfluchen. Nun kann ich dafür nicht alle Lorbeeren in Anspruch nehmen, denn Ting ist Chinesin und kann daher von Kultur aus fluchen. Nachdem wir nun über ein Jahr zusammenwohnen, flucht sie deutsch – wer sich ärgert, will verstanden werden – und es sind Hinterhofflüche.
Eigentlich fühle ich mich wie zuhause, wenn ich aus der Küche den Wutschrei »verfickte Kacke, das Gas ist alle« höre. Auch ist sie zu jedem Fluch bestens angezogen. Wer im Ballkleid wie ein Postkutscher fluchen kann, der hat meine volle Aufmerksamkeit. Allerdings ist auch ihre Sprachbegabung irrelevant, weil es nichts mit dem Virus zu schaffen hat.

Sie flucht oft, oft schon morgens beim Schminken, daran kann und möchte ich nichts ändern. Würde ich sie bitten, weniger zu fluchen, bekäme ich sicherlich einen bösen Blick und vielleicht auch einen Gratisfluch. Sie ist nicht gut darin, Dinge zu tun, die sie nicht tun möchte und das ist schon relevanter.

Etwas, was Ting ihrer Familie lange schon verweigert, ist ihre Heirat. In China gilt nur als erwachsen, wer verheiratet ist, und die Alten glauben, dass eine Frau erst etwas erreicht bzw. ihre Zukunft gesichert hat, wenn sie einen Mann hat. Tings Familie macht Druck, viel Druck, und das schon lange, länger als Ting und ich uns kennen. Normalerweise sollten Frauen spätestens nach dem Uniabschluss einen Ring nehmen, dem Ringspender ein Kind schenken und beiden den Haushalt führen. Das ist ein großer Preis für einen kleinen Ring und daher stimmen dieser Idee nicht alle jungen Frauen zu. Ting wird dieses Jahr 34. Sie ist eine Romantikerin, möchte Kinder und Familie (wahrscheinlich um sie anzufluchen), möchte aber beides zu ihren Bedingungen.
Von der Familie Tang weiß ich wenig, eigentlich nur, dass Ting sich mit ihnen immer wieder stritt: meinetwegen. Denn die Tangs waren nicht damit einverstanden, dass der Lover ihrer einzigen Tochter deutsch, alt und arm ist.
Tings Mutter versuchte sie regelmässig zu verkuppeln. Schlug ihr Dates vor, lud nette Nachbarknaben zum Mittagessen ein, versandte Links zu Datingwebsites, sprach über die Vorzüge des Ehe- und die Gefahren des Singlelebens, warnte beiläufig vor Ausländern, sprach davon, dass sie selbst und der Vater nicht glücklich sein könnten, solange Ting nicht unter der Haube sei. D.h Mama drohte, weinte, intrigierte, flehte, warb, bestach und schwieg beleidigt.
Alles aber half nichts. Ting blieb stur. Sie ist so stur wie ich. Das heißt, dass wir beide oft damit beschäftig sind, nicht zu tun, was der Andere will, was uns beide viel Kraft kostet. Aber auch wenn wir uns gelegentlich gegenseitig ansturen, will sie mich und will, dass ihre Familie mich akzeptiert.

Ich hatte vermutet, dass die Traditionen in den Köpfen der Familie Tang härter seien als der Dickkopf meiner Ting.

Das war falsch.

Tradition für Einwand zerbrach an Ihrem Dickschädel und einer nach dem anderen der Tangs akzeptierte mich. Den Denkprozess der Eltern stelle ich mir ungefähr so vor, dass ein ausländischer Schwiegersohn doch vertretbar sei, wenn die einzige Tochter im Austausch endlich einen Ring bekäme.
Dass der Kampf um Selbstbestimmung dazu führt, freiwillig jemanden wie mich zu heiraten, ist eine schlechte Nachricht, ist aber sehr relevant für den Virus, oder zumindest dafür, wie ich seinen Ausbruch erlebte.

Im Dezember, also ungefähr zu der Zeit, als ich das erste mal vom neuen Coronavirus las, traf ich das erste mal Tang Tings Bruder zum Essen in einem Restaurant in Changsha. Ein paar Wochen später waren wir dann zum Essen in der Wohnung des Bruders eingeladen. Tings Eltern würden auch da sein. Das Essen verlief scheinbar gut, denn nachher war ich zur Feier des chinesischen Neujahrs eingeladen. Zu dieser Zeit wuchs die chinesische und internationale Sorge wegen der Ansteckungsgefahr und mir dämmerte, dass ich so gut wie verheiratet bin.
Familie Tang besteht aus der oben erwähnten Mutter Tang die immer noch Zhang mit Familiennamen heißt. Denn in China ändert, wer heiratet, seinen Namen nicht. Früher war sie – wie ihr Ehemann – Bäuerin, heute, wo ihr Ehemann für die Regierung arbeitet, bleibt alle Hausarbeit an ihr hängen.
Vater Tang heißt wirklich so und ist sowas wie der Dorfvorsteher … Bürgermeister … 1. Parteivertreter der 17. Straße? Ting meint, er sei so etwas wie ein Bürgermeister für einen Abschnitt des Dorfes.
Dann gibt es noch Tings jüngeren Brüder, den alle in der Familie Lehrer Tang nennen und dessen Frau Hui Hui. Von der ich nach 2 Wochen immer noch nicht viel weiß, außer dass ich es nicht schaffe, sie beim Siedlerspiel zu besiegen.
Und schließlich Tian Tian, die 3-jährige Tochter der beiden, die quietschvergnügt die Hauptrolle in der Familie spielt und ohne die ich nicht wüsste, was ich den Großteil des Tages tun sollte.
Dazu gibt es noch eine ganze Bande von Onkels, Cousins, Tanten und Nichten, die ich jetzt nicht alle aufzählen mag und die auch im Verlauf der Tage bei der Familie Tang keine so große Rolle spielten, wie ihnen zugedacht war.

So ein chinesisches Neujahrsfest ist ungefähr wie ein deutsches Weihnachten. Nur länger und mit besserem Essen. Allerdings wurde es so lang, dass ich begann, mich nach deutschem Essen zu sehnen. Diese Tage folgen – wie alle chinesischen Feiertage – dem Mondkalender. Daher fiel der chinesische 30 Dezember dieses Jahr auf den europäischen 24. Januar und am 19. gingen wir zu den Tangs. Wir wollten 6 Tage bleiben.

Das Tang-Haus liegt in einem schmalen Tal zwischen niedrigen Hügeln und ist von Reisfeldern umschlossen. Die Winter Hunans sind dunkel und nass, ganz ähnlich wie in Berlin – nur mit weniger Heizung. Dunkelheit wie Kälte verdirbt mir immer die Laune, daher mochte ich Haus und Tal zu Anfang nicht.
In der Raumunion aus Vor- und Wohnzimmer hängt auch ein Ahnenschrein inklusive Mao-Bild. Kurz vor dem chinesischen Neujahr feiern die Tangs auch den Geburtstag der verstorbenen Großmutter. Dabei wird Papiergeld verbrannt, das hat mir gefallen, denn Dinge verbrennen finde ich gut. Die Tangs verbeugten sich auch vor dem Bild der Großmutter, was mich rührte, denn auch ich sollte mich niederwerfen, und dass ich derart in die Ahnenriten der Tangs integriert wurde, zeigte mir, wie gründlich sich Ting Tings Dickkopf durchgesetzt und wie sehr sie mich schon zum Tang gemacht hatte.
Es gab auch ein Hühneropfer, was mich erschrak, denn es war mein erstes Tieropfer. Kurz schlug Ting vor, dass ich das Huhn umschubsen solle, aber meinen Schrecken muss man mir angesehen haben und ich wurde verschont. Das Huhn allerdings ist tot. Umgeschlachtet wurde es vom Onkel Tang Guo Dong, den alle Onkel Mao nennen. Nachdem sie ihm die Kehle durchgeschnitten hatten (dem Huhn, nicht dem Onkel), fingen sie das Hühnerblut in einer Glassschüsel auf und stellten es vor den Ahnenschrein. Dort blieb es, bis wir es zum Abend aßen. Wirklich aßen und nicht tranken. Blutspeisen sind in Hunan nichts ungewöhnliches und wenn man nicht weiß, was man isst, könnte man denken, es wäre rotes Tofu. Ich finde daran nichts ekliges und die Vogelgrippe habe ich auch nicht bekommen. Vielleicht wäre ich davon, dass ich Zeuge wurde, wie Onkel Mao vor dem Gemälde Mao Zedongs ein Huhn opfert, stärker beeindruckt gewesen, wenn ich nicht ständig heimlich die Zahl der Infizierten gegoogelt hätte.

Aber zurück zum wesentlichen: Dem Essen. Das chinesische Essen ist gut und das Essen in Hunan ist besonders gut. Das Essen im Haus der Tang ist etwas besonderes für mich, denn es ist Bauernküche und nicht das übliche Restaurantchinesisch. Das ist positiv gemeint. Auch wenn vielleicht viele Deutsche Probleme hätten mit den Blutsuppen und Fleischgerichten, die größtenteils aus Fettstücken bestehen. Mir aber schmeckt es aus gezeichnet. Denn ich bin Berliner, und wer Currywurst, Eisbein und Kebab genießt, isst auch sowas. Schon beim ersten Abendessen bei den Tangs gab es Hühnerblut, Schweinefüße und Magen, aber natürlich auch schüsselweise Gemüse.

Am nächsten Morgen abonnierte ich den Situationsbericht der WHO zum Coronavirus, um den Infizierten effizienter folgen und mir besser Sorgen machen zu können. Allerdings sorgte ich mich nicht um meine Gesundheit, sondern um die von Tian Tian.
Tian Tian ist die jüngste Tang und die erste, die mich mit vollen Herzen adoptierte. Sie ist meine Rettung und sie hält mich für ihr Spielzeug. Da mein chinesisch nicht besonders ist und sicherlich nicht gut genug, um den Hunan-Dialekt der Tangs zu verstehen, bin ich aus den meisten Gesprächen und Vorgängen im Haus ausgeschlossen. Tian Tian hat daraus gefolgert, dass ich kein richtiger Erwachsener bin und mich zu ihrem Eigentum erklärt. Meine Hauptaufgabe ist mit ihr zu spielen, was mich davor rettet, mich mit Langeweile anzustecken.

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Das chinesische Neujahr ist dieses Jahr ausgefallen, es besteht nämlich eigentlich aus einer einwöchigen Kette von Verwandtschaftsbesuchen und einem ununterbrochenen Gelage. Dieses Jahr fielen die Besuche aus und die Tang-Kernfamilie und ich essen seit Wochen allein miteinander. An den ersten beiden Tagen kamen noch viele Gäste: Nachbarn und Verwandte. Als dann aber Wuhan unter Quarantäne kam, zogen die meisten Familien nach, riefen ihre privat Quarantäne und luden einander aus.

Und dann geschah nicht viel. Quarantäne ist zwar keine einsame Affäre, wenn man mit einer geliebten und 5 fremden Tangs in ein Haus gesperrt ist, es ist aber eher ein seltsames als ein spannendes Kammerspiel.

Dennoch wäre ich gern für ein paar Tage Panikgast in einer chinesischen Metropole, um einen Seuchenspaziergang zu machen. Sorge hätte ich bei einen Spaziergang keine, da die Straßen leer sind und man sich bei den vereinzelten Passanten, so man sie nicht anfasst, kaum anstecken kann. Man könnte das – ich muss es zugeben – Katastrophentourismus nennen, aber ich fühle mich in diesem Land nicht mehr als Tourist.
Hauptsächlich ist dieser Laufwunsch auch der Wunsch, überhaupt spazieren zu dürfen. Auch ich werde überwacht, allerdings nicht staatlich sondern familiär. Die Menschen wurden vom Dorfschulzen aufgefordert, zuhause zu bleiben und Spaziergänger, insbesondere die Auffälligen, werden dem Dorfschulzen gemeldet. Der Dorfschulze redet dann mit seiner Tochter (Ting Ting) welche dem Spazierer (mir) das Gehen verbietet. Hätte ich es mit irgendeinem chinesischen Schulzen zu tun, spielte ich die Weiße-Affen- Karte und ignorierte das. Ting kennt den Trick aber schon und kontrolliert mich via bösem Blick. Die einzigen Wege, die mir erlaubt sind, führen über die Reisfelder und wenn ich sie gehe, muss ich eine Maske tragen, die ich an diesem Orte für gänzlich unnötig halte. Trotzdem trage ich sie immer gewissenhaft, solange ich in Sichtweite des Tang-Hauses bin. Wenn ich mit Maske über die Reisfelder balanciere, fühle ich keine Katastrophe sondern mich albern. Auch erscheinen mir die Felder nicht leerer als üblich. So habe ich viele Enten und einen Kranich gesehen. Selbst die Lautsprecherwagen, die ein paar mal pro Tag durchs Dorf fahren und die neusten Coronaentwicklungen verkünden, schaffen nicht, in mir Weltuntergangsstimmung zu wecken.

Vielleicht wäre mein Eindruck anders, wenn ich jetzt in Changsha oder einer anderen Millionenstadt Chinas wäre, möglicherweise kann ich die Schwere der Lage nicht einschätzen, weil ich neu im Dorf bin und die Ausnahmesituation für mich Normalität ist, aber die größte Gefahr für mich ist wohl, dass ich, weil ich nicht spazieren darf und 3 mal pro Tag vorzügliche Bauernküche bekomme, fett werde.
Mein großes hollywoodeskes Abenteuer fällt wieder einmal aus. Stattdessen bleibt mein Leben merkwürdig: erst hatte ich Haus- und Tochterverbot bei den Tangs, aber jetzt darf ich nicht mehr weg.

Wegen des Coronavirus wurde nicht nur Wuhan in Hubei unter Quarantäne gestellt, sondern auch die Semesterferien im ganzen Land verlängert. Die Universitäten des Landes bleiben bis zum 6.März geschlossen, selbst meine widerwilligen Schwiegereltern wollen nicht, dass ich mich irgendeiner Gefahr aussetze. So bleibe ich im Haus der Tangs und kann vom Weltuntergang eigentlich nur berichten, was eine chinesische Familie in der Hunanprovinz daraus macht, das ist aber weniger »12 Monkeys« und mehr »ich heirate eine Familie«.




Tick Tack Ting Ting?

Vor kurzer Zeit war ich wieder mal in Changsha. Die Stadt lässt mich nicht los, was banal ist, da meine Freundin dort lebt.
Ich schrieb hier, dass ich vor Changshas Lärm und Staub floh.
Nun kam ich mit meinem Herren und weißen Affen im Gepäck also zurück. Das hatte nichts mit Lust zu tun, aber alles damit, dass mir die Gründe ausgingen, warum Ting Ting mich besuchen solle und ich nicht zu ihr kommen könnte, aber ein wenig freute ich mich auf die Chilis.
Dass ich von Nanjing nach Changsha flog, machte die Sache nicht besser, denn so gern ich Zug fahre, so sehr hasse ich Flugzeuge. Herr Buchholz versuchte im Flugzeug zu schlafen, der weiße Affe aber schmollte, weil er nicht am Fenster saß. Zwischen den Beiden eingequetscht, misslang mir beides.
So war ich, da ich im Flug weder schmollen noch schlafen konnte, in Changsha sehr zerknautscht.
Erstaunlicherweise besserte sich meine Laune sofort, als ich Changsha roch. Der Affe tanzte, der Herr zupfte seine Krawatte zurecht und ich freute mich.
Changsha! Ich war zurück in meiner ersten Stadt in China, zurück auf meiner ersten Station einer Reise, die vor 2 Jahren begann und noch nicht beendet habe.
Im Expressbus in die Stadt drückten wir unsere Nasen an die Fensterscheibe, um zu sehen, woran wir uns erinnerten aus der Zeit, als wir vor 2 Jahren das erste mal diese Strecke fuhren. Was sehr dumm war, da es dunkel war und es auch im Licht wenig zu sehen gibt entlang dieser Straße.
Zwei…, nein zweieinhalb Jahre können eine lange Zeit sein, dachte ich derweil. Jedenfalls habe ich das Gefühl, mich verändert zu haben in dieser Zeit. Zwar ist Veränderung eine Konstante, doch denke ich, dass die Kräfte der Reise so an dem Reisendem zerren, dass er sich schneller ändern muss, um mit sich Schritt zu halten.
Jedenfalls versuchte ich mich während der Fahrt in die Stadt daran zu erinnern, wer ich damals war und fühlte mich dabei, als dächte ich an einen vertrauten Fremden.
Die folgenden Tage mit Ting Ting waren schön, was nicht überraschte, was aber überraschte, war, dass mir auch Changsha wieder gut gefiel, so gut sogar, dass ich mich über mich selbst ärgerte.
Als ich die Lushan Lu herunterlief, wurde ich so glücklich, dass ich hätte weinen können. Aber es war eine melancholische Freude, so als käme ich an einen verlorenen Ort meiner Kindheit zurück.
Nun ist, wenn ich zu mir ehrlich bin, meine Reise genau das, meine Reise ist der Versuch, den Zauber meiner Kindheit in Asien zu finden.
Als ich mit feuchten Augen auf der Lushan Lu stand, sprang mein innerer Affe im Kreis.
„EsistunsgelungenEsistunsgelungenEsistunsgelungenEsistunsgelungen“
Doch der Herr sagte: „Nein so nicht“.
„Als ich das zweite Jahr in China lebte, war ich oft genervt von Changsha. Als ich wiederkam, liebte ich die Stadt, es kann nicht sein, dass ich mein Leben nur im Rückblick lieben kann.“
Es heißt, Reisen bildet.
Nun, nach dieser kurzen Reise von Nanjing nach Changsha kann ich ganz Southparklike vortreten und sagen: „Ich habe heute etwas gelernt“
„Ich sollte mein Leben im ersten Augenblick genießen und nicht, wenn ich es misse“.
Ich habe aber noch etwas gelernt. Changsha gefiel mir, weil es weniger verwestlicht oder vermodernisiert ist als Nanjing.
Oder auch: „In Nanjing vermisse ich China“.

Nun ist diese Reise zurück auch schon vergangen und heute warte ich darauf, dass Ting Ting mich verlässt. Ich befürchte, dass ich bald mit Trauerfreude an sie denken werde.
Ting Ting hat ihrer Mutter von uns erzählt.
Diese wohnt mit dem Vater eine Halbtagesreise weg von Changsha. Sie kommen vom Land, sind eher konservativ und gegen mich.
Das habe ich durchaus erwartet, was mich aber beleidigt, ist der Grund ihrer Abneigung.
Ich bin ihn nicht – wie ich erwartete – zu unchinesisch. Ich bin ihnen nicht – wie ich befürchtete – zu arm für ihre Tochter. Sie sagen, ich sei zu alt. Das saß, das war gemein.
Ich bin wütend auf Ting Tings Eltern, aber nicht weil sie mich beleidigten, sondern weil sie ihre Tochter quälen.
Am letzten Freitag hatte Ting Ting ihren Eltern erzählt, dass es mich gibt und sie mich liebt. Am Samstag stand ihre Mutter vor ihrer Tür und sprach zu ihr. Die Kernbotschaft war: „der alte Sack oder wir, wenn du beim alten Sack bleibst, dann hast du keine Familie mehr“.
Noch hat sie mich nicht verlassen, aber als wir telefonierten, hatte sie eine kleine Stimme und klang, als wolle sie weinen.
Am folgenden Wochenende wurde sie zum Rapport bestellt nach Hause.
Ihre Eltern – diesmal mit doppelter Stimme – wiederholten sich: „Er oder wir, wenn du zu ihm gehst, brauchst du nie wieder zu uns zu kommen, aber wir werden unglücklich und jung sterben, weil wir uns für den Rest unseres Lebens sorgen machen um dich!“
Das nächste mal, als wir am Telefon sprachen, hat sie geweint.
Es gibt nichts schöneres als Liebe in der Familie.
„Sie machen sich nur Sorgen um mich“, sagt Ting Ting.
Noch habe ich eine Freundin und ich weiß schon lange, dass ich sie, wenn ich bei ihr bleiben will, heiraten muss. Aber ich weiß nicht, ob ich solche Schwiegereltern will.
Wie es auch immer weitergehen mag, wenn ich Ting Ting wiedersehe, werde ich unsere Zeit genießen, während sie vergeht und nicht erst, wenn ich sie misse.




Tick Tack

Stehe ich, wo ich stehe, weil ich komme, woher ich komme, oder sehe ich, was ich sehe, wenn ich zurückblicke, weil ich stehe, wo ich stehe?
Erinnerungen …
Ich erinnere mich an …

Tick

das Karussell vergeht.

Tack

Anna brach vorsichtig ein kleines Stück Schokolade aus ihrem Weihnachtsmann heraus. Dann stellte sie ihn wieder weg. Sie aß die Schokolade und dann vergaß sie den Weinachtmann. Ich war enttäuscht.
Anna war die Tochter Berthas, der besten Freundin und Mitbewohnerin meiner Mutter. Ich bewunderte Anna sehr, denn sie konnte Schokolade widerstehen. Ich hatte meinen Weihnachtsmann schon gefressen – wahrscheinlich inklusive Papier und reichender Hand – und beobachtete nun Anna, um das Geheimnis ihrer Disziplin zu erfahren – und war dazu bereit, alles dafür zu tun, ihren Weinachtsmann essen zu dürfen.

Tick

Mein Papa hieß damals Mittwoch. Eigentlich heißt er Uwe und Papa sagte ich nur, wenn ich böse auf ihn war, aber jeden Mittwoch war ich bei meinem Vater. Papa war Mittwoch und Gott sprach: Es werde Mittwoch und siehe, es wart Uwe.
Ich liebte meinen Vater sehr und Mittwoch war immer ein guter Tag. Doch am besten war der Morgen nach Mittwoch, wenn mein Vater mich in den Kindergarten brachte. Mein Vater wohnte damals in Spandau und der Kindergarten, in den ich ging, bevor ich auf die Baumschule musste, war in der Stadt. Mein Vater, den ich damals für den größten Sportsmann aller Zeiten hielt, fuhr mich mit dem Fahrrad. Mein kleiner Kindersitz war am Lenker befestigt, die Aussicht auf das vorbeirauschende Berlin war berauschend und es gab kein Kind auf der ganzen Welt, dass am Donnerstagmorgen glücklicher war.
Für alle die, die das Pech hatten, nicht im Berlin der 70er Jahre geboren worden zu sein: Die Strecke von Spandau in die Stadt ist weit und für mich wird mein Vater immer der größte und wichtigste Radfahrer der Welt bleiben.

Tack

Donnerstag war Großelternzeit. Oft holte mich mein Großvater von Kindergarten oder Schule ab und dann ging es nach Steglitz. Die Wohnung meiner Großeltern war für mich eine Art wöchentliches Schlaraffenland. Da flossen Cola und Kakao, und wenn ich den Mund öffnete, flog ein Hamburger hinein.
Noch heute weiß ich, in welchem Küchenschrank, in welcher Ecke des Schrankes, meine Großeltern ihre Schokolade aufbewahrten. Groß und hoch war dieser Schrank. Zu groß und zu hoch für mich. Man könnte meinen, meine Oma versteckte dort etwas vor mir. Doch dem war nicht so. Der Weg war einfach. In den Zeiten, in denen die Artikulation längerer sinntragender Satzeineinheiten meine Sache noch nicht waren, zog ich meine Oma am Rock und schon nahm sie mich auf den Arm. Sobald ich mir es dort oben gemütlich gemacht hatte, wies ich ihr den Weg. „Da“, sagte ich und zeigte auf den Wohnungsflur. Und Oma trug mich dahin – heute bin ich sicher, sie wusste schon, wohin die Reise ging. „Da“, sagte ich und zeigte auf die Küche – die Reise ging weiter. „Da“, sagte ich und zeigte auf den Küchenschrank, den mein Oma natürlich öffnete. „Da“, sagte ich und zeigte glücklich auf die Schokolade.
Heute, nach dem Tod meines Großvaters gibt es nur noch wenig Schokolade in Steglitz. Meine Oma macht sich nichts daraus. Natürlich könnte ich sie immer noch an der Hand nehmen, in einen Supermarkt bringen und – „da“ – auf den Gegenstand meines Appetits zeigen: meine Oma würde nicht zögern.
Aber das tue ich nicht.
Aber hin und wieder, wenn ich dort bin, öffne ich den Kuchenschrank, der immer noch an der gleichen Stelle steht. Dann schaue ich auf den Platz, an dem früher die Schokolade war und der jetzt von einer besonders langweiligen Tasse eingenommen wird und denke an die Zeit, als Steglitz mein Schlaraffenland war und in diesem Schrank eine Schokoladenquelle sprudelte.

Tick

Flure – besonders Wohnungsflure – waren mir als Kind immer unheimlich. Ein Flur ist weder Wohnzimmer noch Küche und Schlafzimmer schon gar nicht. Wer im Flur schlafen muss, der hat kein Zimmer, der ist ausgeschlossen.
Flur…
Bei diesem Wort krampfte mein kindliches Herz. Es klang nach den kalten Fingern eines Luftzuges, der dich am Nacken packt, dir das Hirn entzieht und deine Fantasie verschleppt.
Der Wohnungsflur war ein Zwischenreich: kein Zimmer für Kinder. Hier blieb man nicht, hier ging man nur und ich floh. Vom Flur aus konnte man überall hingehen und das machte mir Angst, halb fürchtete ich, wenn ich unseren Wohnungsflur betrat, dass eine neue Tür erschienen wäre, die angelehnt, weder geschlossen noch offen, so wie der Flur weder drinnen noch draußen ist, ruft und sich langsam knarrend geisterhändig auftut und mich aufsog in ein schrecklich heimatloses Leben.
Erwachsene denken, dass Kinder Angst hätten vor dem Monster unterm Bett. Dieses Monster fürchtete ich nie (denn da waren keine, ich habe nachgeschaut), ich fürchtete die Monster im Flur.
Meine ganze Kindheit lang fürchte ich, einem Monster zu begegnen, noch heute habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, eines zu finden.

Tack

Mein Großvater war ein großer Mann. Geradezu ein Riese aus Kindheitsaugen. So war auch einer meiner sehnlichsten Kinderwünsche, einmal so groß zu werden, wie er war.
Nun, er ist vor 3 Jahren gestorben und meine Familie hat sich davon nie erholt. Und auch wenn ich fast so groß geworden bin wie er, bin ich doch ein anderer.
„Gott sei Dank“, würde er wohl sagen.
Einer meiner neunmalklugen Kindheitsweisheiten, die mir hintertragen wurden, war meine Vermutung, dass es sich bei älteren und größeren Menschen nicht um Erwachsene, sondern nur um Gewachsene handele.
Was soll ich sagen: Ich hatte recht. Doch wächst man nie linear nach oben, mein Wachstum änderte seine Richtungen, als meine Mutter mich nach Asien nahm.

Tick

Eine Zeitlang arbeitete meine Mutter in einem Buchladenkollektiv. Damals hatte ich noch nicht lesen gelernt und würde mir auch noch viel Zeit damit lassen. Es gab also wenig im Laden, dass mich interessierte. Glücklicherweise war da ein kleiner Aufzug, mit dem die ignoranten Buchhändler Bücher transportierten. Ich hielt das für eine typische Erwachsenenidee, denn jedes Kind konnte sehen, dass der Lift wie für mich gemacht war.
Glücklicherweise hatte ich Hilfe. Meine Tante, die ungefähr 14 Jahre alt war, war noch nicht zu verwachsen, um zu sehen, was da war. Die Arme war aber leider schon zu groß, um selbst fahren zu können, aber als Bodentechnikerin war sie bestens qualifiziert. Während ich, bewaffnet mit Keksen, meine Reise hinab ins Labyrinth der staubigen Bücher antrat, bedauerte ich meine Tante dafür, so schnell gewachsen zu sein. Aber im Umlegen des Schalters, der den Aufzug zum Mittelpunk der Erde in Bewegung setzte, erreichte sie wahre Meisterschaft.

Tack

Die Mutter meiner Erinnerung ist eine lockige und lächelnde Sonne über mir. Heute hat sie keine Locken mehr – die waren falsch – und sie ist kleiner als ich, aber das Lächeln ist immer noch echt.
In meiner Kindheit war meine Mutter ein nie versiegender Quell von Zuneigung und Eierkuchen. Auch züchtete sie wunderschöne Pilze in Einmachgläsern, die nur ich nicht essen durfte. Was ich als sehr ungerecht empfand, denn meine Mutter und ihre Freunde aßen diese Pilze mit ersichtlichem Vergnügen und hörten dann stundenlang Musik. Sie waren dann immer besonders freundlich zu mir, auch wenn das, was sie sagten, noch weniger Sinn gab als sonst. Aber die Sinnlosigkeiten der Großen ist man als Kleiner gewöhnt und alles, was man will, ist mitzumachen. Aber das durfte ich nicht.
Meine Mutter und ihre Freunde müssen ein recht munteres Völkchen gewesen sein, das mich unwillentlich davor bewahrte, ein Rastafari zu werden. Denn dank frühkindlicher Prägung erinnert mich Reggae und der Geruch von Dope bis heute an Apfelkuchen und Kindergeburtstag. Gegen beide Versuchungen war ich als Teenager – ein Alter, in dem man versucht Kindergeburtstage hinter sich zu lassen – gefeit. Dafür bin ich meiner Mutter dankbar. Allerdings üben alle Pilze bis heute eine Anziehungskraft auf mich aus, der ich gerne nachgebe.

Tick

Meine Kindheit bis zum Alter von 5 war gut, wenn auch nicht außergewöhnlich, was daran lag, das man als Kind alles gewöhnlich nimmt.

Tack

Dann fragte mich meine Mutter, ob ich mit nach Indien wolle. Mittwoch und Donnerstag waren dagegen, aber ich sagte ja.
Ich sagte ja und wusste nicht wozu, wusste nicht, was da kommen wird. (das war eine wichtige Lektion fürs Leben)
Wenn meine Kindheit bis dahin gewöhnlich ungewöhnlich war, so wurde mein Leben nun zum Wunder, manche diese Wunder konnte die Zeit nicht heilen. Und auch wenn mir viele sagten, dass meine erste asiatische Reise schlecht für mich gewesen wäre und auch wenn ich das selbst lange dachte, möchte ich kein langweiliges Leben dieser Welt gegen die Erinnerungen tauschen, die ich habe.
Ich war 5 Jahre alt und meine Mutter nahm mich mit auf die weite Flur.

Tick

Die Geschichte der Reise, die wir machten, die ich kenne, besagt, dass meine Mutter ursprünglich nur 3 Monate nach Indien wollte. Das war zu Zeiten damaliger Backpacker nur ein Blinzeln, ein kurzes Vorbeischauen, ein flüchtiger Händedruck.
Doch dann starb Jan. Jan war der Liebhaber meiner Mutter und er starb bei einen Autounfall in Kenia. Karl, einer der besten Freunde meiner Mutter, suchte und fand uns in Indien, um meiner Mutter die schlechten Nachrichten zu überbringen.
Das zeigt vielleicht, wie weit man weg war, wenn man damals wegging. Es war 1982. Telefone waren in Indien selten und Überseegespräche zu teuer für uns. Das Internet noch nicht erfunden und soziale Netzwerke bestanden aus Bier und Spucke.
Alles, was Karl kannte, war dank eine Postkarte meiner Mutter die ungefähre Region, in die es uns in Indien verschlagen hatte. Er fragte dann in den Hostels nach deutschen Locken und ihrem weißblonden Sohn.
Er fand uns.
Ich glaube manchmal, dass meine Mutter immer noch um Jan weint. Damals aber nahm sie mich noch fester an die Hand und beschloss, dass sie vorerst nicht nach Deutschland zurück wollte.
Wir blieben 2 Jahre in Asien, und mein Leben begann.

Tack

Die Monster, die ich im Flur fürchtete und suchte, fand ich in Indien. Ich meine nicht die Elefanten. Die bunt angemalten indischen Elefanten liebte ich. Tatsächlich war ich sehr enttäuscht, als ich am Flughafen Delhi nicht von Elefanten begrüßt wurde und machte meine Mutter auch sofort – schmollend – auf deren unverzeihliche Abwesenheit aufmerksam.
Ich meine auch nicht die Affen. Affen sind zwar Mistviecher, doch wurden sie zur Gottheit meiner Wahl. Von Affen werde ich später sprechen.
Die Monster, die ich meine, die Monster die mir Angst machten, waren Kühe.
Lacht da wer?
Indische Kühe sind keine Lila Milka-Milchkühe, sondern Tiere die nie domestiziert wurden, die machen können, was ihnen gefällt; sie sind größer, buckeliger, stinkiger und insgesamt kuhiger als Schokoladenkühe!
Ich kann euer Grinsen sehen!
Vom Boden aus gesehen, aus der Perspektive eines 5jährigen gesehen, ist eine Kuh groß wie der Drache Fafnir. Doch ich war kein Siegfried und wollte auch nicht in irgendeiner Körperflüssigkeit meiner Kuhdrachen baden.
Auch wenn ich dazu reichlich Gelegenheit hatte. Indische Kühe scheißen Haufen, hinter denen sich 5jährige verstecken können. Indische Kühe sabbern so sehr, dass sich Klein-Siegfried einen Regenschirm wünschte. Indische Kühe achten nicht darauf, wo sie hinpissen und wenn da, wo sie hinpissen, schon jemand steht, hat jemand Pech gehabt. Für einen 5jährigen hat solch ein Urinstrahl ungefähr die Qualität des Monsuns.
Ja, es waren nur Kühe, aber Tiere, in deren Urin du ertrinken kannst, haben deinen Respekt und sind alles, was sich ein Kind unter Monstern vorstellen kann, sie übertrafen gar alle Flurbewohner, von denen ich fantasierte, bevor ich nach Indien ging.

Tick

Indien – oder besser – die Inder waren mir von Anfang an sehr zugewandt. Oft wandten sich mir so viele Inder gleichzeitig zu, dass ich nur noch Inder und kaum noch Indien sah. Sei’s drum, ein Land, das sind die Menschen und die meisten Zugewandten, freuten sich ersichtlich mich zu sehen. Sie freuten sich so sehr, dass sie mir übers Haar strichen, was mich und meine Geduld belastete.
Nicht ganz unschuldig daran, war sicherlich mein damals noch weißblondes Haar. So was sah man damals nicht oft in diesen Breiten.
Damals war ich süs und die meisten Inder begrüßten mich mit einen höflichen, „Hello Baby!“
Worauf ich weniger höflich schrie: „NO BABY, BOY!“
Was soll ich sagen, ich war noch nicht alt genug, um süß sein zu wollen.
Das war – glaube ich – mein erster englischer Satz und er blieb lange sehr einsam. Ich lernte kaum Englisch auf meiner Reise und sperrte mich zu erfolgreich auch später oft dagegen, Dinge zu lernen, die ich nicht lernen wollte.

Tack

Meine erste Zeit in Asien verbrachte ich an der Hand meiner Mutter. Sie hatte Angst um mich und ich hatte Angst vor Indien: wir waren unzertrennlich.
Dass ich mich in der Hand meiner Mutter versteckte, soll nicht heißen, dass es mir schlecht ging in Indien.
Indien ist überwältigend und hat schon viele gewachsene Persönlichkeiten überwältigt.
Indien ist kein Land für laue Tage. Es ist nicht bunt, sondern grell, hier stinken die Blumen nach Scheiße und die Scheiße riecht nach Rosenwasser. Indien ist eine Sinnesexplosion, in der viele einen Sinn suchen.
Die Eindringlichkeit und Tiefe der indischen Eindrücke würden manche mit LSD vergleichen, doch was weiß ein 5jähriger von LSD?
Wie soll ich beschreiben, was mein 5jähriger dachte, als er in Indien war?
Nun, neben mir ging meine Mutter und ich ergriff eilig ihre Hand, um mich zu schützen, doch die Augen schließen, wollte ich nicht. Ich hielt ihre Hand und und sog alles auf, bis es mein Hirn auszog und auf meiner Fantasie spielte wie auf einem Instrument.
Ich sah den Müll und die Blumen, die Armut und die Farben, das Gedränge und das Lächeln …

Tick

Abgesehen davon, dass es am Flughafen an Elefanten mangelte, beginnen meine Erinnerungen an Indien in Goa.
Goa ist…
Goa ist einer der magischen Orte, deren Klang Bilder und Ideale beschwören. Portugiesisches Erbe, weiße Strände, blaues Meer, Vollmondpartys, Sex im Mondlicht, LSD, Freiheit, Ausbruch, TUI, Strandresorts, Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung, Massentourismus, Englisches Frühstück unter Palmen, Prostitution, Hippies, Kopfschmerztabletten, schöne Menschen am Strand, Sex, Drogen, Beschaffungskriminalität und so vieles mehr.
An nichts davon denke ich, wenn ich mich an Goa erinnere.
Meine erste Erinnerung ist die Rote Erde. Wir hatten eine kleine Hütte gemietet, in etwas, dass mir im Nebel, der meine Bilder umschließt, wie ein kleines Dorf erschien. An das Innere unseres Zimmers erinnere ich mich nicht, aber ich weiß, dass alle Erde um das Dorf rot war, dass da ein Weg war, am dessen Ende ein kleiner Gemischtwarenladen wartete, zu dem meine Mutter mich oft schickte. Ich weiß, dass ich ich diesen Weg oft entlang rannte, dass ich oft fiel, so dass meine Knie so blutig und rot wurden wie die Erde Goas.
Ich erinnere mich an eine indisch bunte Torte, die meine Mutter für unsere Gastfamilie kaufte. Ich erinnere mich daran, neben meiner Mutter herzulaufen. Ich weiß, wie ungeduldig ich war, dass ich nicht warten konnte, die Torte in einem Bissen zu verschlingen. Doch ich wurde enttäuscht. Unsere Gastgeber erwiesen sich als noch disziplinierter als Anna. Es dauerte Wochen, bis wir die Torte aufgegessen haben und die Stücke, in denen sie verteilt wurden, erscheinen mir eher wie Abstriche.
Dann waren da die Klos (es waren keine Toiletten).
Es kann keine Indiengeschichte geben, in denen nicht von Klos gesprochen wird, das ist ein narratives Gesetz und zwingender als die Schwerkraft auf Plumskos.
Mir sollten in Indien einige Klos begegnen, die ich nie vergessen werde. Doch dieses erste, an das ich mich erinnere, war das beste. Dieses Klo, war nach indischem Standard nicht mal dreckig, es war ein simples hölzernes Plumsdings zum Hocken. Doch war es über dem Stall erbaut, in dem Schweine lebten. Jeder Stuhlgang war zugleich Fütterungszeit. Wenn man seinen Arsch oben übers Loch beugte, kamen einem einen halben Meter tiefe erwartungsvolle rosa Schweineschnauzen entgegen.
Manchmal wurde im Dorf Schweinefleisch serviert und ich bekam meine erste einfache Lektion und lernte, was ein ökologisches System ist.
Doch meine schärfste Erinnerung ist das Geschrei der schwarzen Krähen Goas: schwarze Krähen, die über die Rote Erde flogen und sich um die Palmen versammelten.
„Karl, Karl, Karl“, schrien die Krähen und kündigten so einen Besuch an, der schlechte Nachrichten brachte.

Tack

Dem Leser der Tick und Tack zusammenzählen kann, wird nicht entgangen sein, dass ich immer wieder aufs Essen komme. Das lag weder daran, dass es zu wenig essen gab, obwohl ich immer der Meinung war, es hätte mehr sein können, noch war es so, dass ich ungebührlich viel aß, auch wenn meine Mutter das vielleicht anders sah, aber Essen bedeutete schon immer Glück für mich.
Meine Mutter erzählte mir oft, dass man mich, während andere Kinder ruhelos schrien, nur zu füttern brauchte und schon schlief ich lächelnd ein.
Die meisten meiner Freundinnen und Freunde meinen, dass ich mich nie geändert habe.
Das halte ich für ungerecht, denn immerhin habe ich gelernt, mir mein Essen selbst zuzubereiten, auch wenn der einfachste Weg, meine Liebe zu gewinnen, immer noch der ist, mir das Frühstück ans Bett zu bringen.
Die indische Küche war, ganz egal wo ich sie serviert bekam, eine schwere Prüfung für mich. Denn das indische Essen war zu scharf. Es gab Tränen: ich spuckte im besonderen Feuer und im allgemeinen alles aus, was ich im Mund hatte.
Hauptsächlich aß ich damals Joghurt und Obst, was der Diät ganz ähnlich ist, die sich meine Mutter im Alter angewöhnt hat.
Aber ich war ein Kämpfer!
Bei jeder Mahlzeit, schwenkte ich meinen Chapati mutig ein paar Zentimeter über dem Essen, wobei ich peinlich darauf bedacht war, dass die Teile des Brotes, die ich essen wollte, nicht die feurigen Soßen berührte.
Dann machte ich meine Mutter auf meine Bemühungen aufmerksam.
„Petra, Petra“, sagte ich, „schau mal, ich kann scharf essen!“
und verspeiste mein Chapati pur.
Als uns Petras Freund Paul auf unserer langen Reise besuchte, fragte ich ihn, ob er mich mit zurücknehmen könne nach Deutschland.
Paul fragte, warum.
Ich antwortete, „wegen der Schokolade“.
„Nur wegen der Schokolade?“, hakte Paul nach.
„Nein“, sagte ich, „auch wegen der Salami“
Der Twist ist, dass ich später kochen lernte, weil ich das scharfe asiatische Essen vermisste. Was zeigt, dass es einem niemand recht machen kann, außer man macht es selbst.

Tick

Eine der Macken, die ich geerbt habe, ist, dass ich nicht in Hotels übernachten will. Nein, es muss ein Hostel sein. In Backpacker Unterkünften fühlte ich mich lange heimeliger als in meiner Wohnung. Und auch wenn ich mich heute fast damit abgefunden habe, viele Tage des Jahres zu wohnen und nicht zu reisen, fühle ich mich, wenn ich ins richtige Hostel komme, gut.
Gut ist ein kleines Wort. Doch gibt es kein passenderes. Ich fühle kein pathetisches Glück in Hostels. Ich fühle mich dort einfach gut, so wie man sich gut fühlt, wenn man mit Freunden beisammen ist, ohne viel zu reden oder woanders sein zu wollen. Wenn Faust nicht Faust wäre, wäre er verweilt.
Was is’n Hostel? Stellen wir uns mal ganz dumm und sagen ein Hostel ist ein großes vieleckiges Haus mit vielen Zimmern, dass zwei Zugänge hat. Einen Eingang unten, durch den wir jetzt hinein kommen und einen Ausgang oben, um den wir uns später kümmern.
Unten erwartet den Reisenden meist eine … Rezeption: Soweit so Hotelig. Aber diese Rezeption ist schäbiger und einfacher als in einem Hotel. Sie ist nicht wie im langweiligen Hilton oder im einschläfernden Kempinski eine Statuserklärung, die sagt: „willkommen geldwerter Gast, dies ist das (Hotelname/Stadtname), achten sie auf Glitter und Concierge, denn für diese werden sie bezahlen“.
Die Rezeption in einem Hostel ist oft zugleich Hostelbar, manchmal nur ein dreckiger Tisch, hin und wieder ein Opa im Schaukelstuhl und in einem erinnerungswürdigen Fall eine alte Dame mit Affenbabys und Babypanther.
Hinter der und um die „Rezeption“ herum entfaltet sich ein Aufenthaltsraum, der auch zugleich Waschküche und Wohnzimmer der Besitzer sein mag. Hier kann man Kontakte zu fremden Reisenden knüpfen und diese, so man das für gut hält, zu Mitreisenden machen.
Hostelhäuser sind nie Häuser, die als Hotel gedacht und gebaut wurden. Hostels sind Zwischennutzung eines beliebigen Hauses auf seinem Weg der Improvisationen. Oft weist nur ein ein schäbiges Schild oder ein schreiender Enkelsohn daraufhin, das im 3. Stock Zimmer vermietet werden.
Dementsprechend geht es weiter jenseits des Aufenthaltsraumes. Oft wurden mehrere Wohnungen, vieler aneinandergrenzender Häuser durch das Einreißen der dazwischenliegenden Mauern zu einem Hostel gemacht. Dementsprechend verlassen die Aufenthaltsräume ein Labyrinth von Fluren, die zu lärmigen Schlafsälen und versteckten Einzelzimmern führen. Wenn man also das Hostel seiner Wahl bezogen hat, ist oft erste Aufgabe, wieder herauszufinden, bevor man die Stadt erkunden kann.
Das Hostel ist das Zentrum der Reise und das Zentrum des Hostels liegt oben, hinter dem Ausgang, um den wir uns jetzt endlich kümmern.
Wenn man bei der Wahl seines Hostels alles richtig gemacht hat, findet man hinter verzweigten Fluren und verwinkelten Treppen den letzten Ausgang, der zur Dachterrasse führt. Hier versammeln sich die Reisenden und die Belegschaft. Wer zu faul ist, das Hotel zu verlassen, kann hier essen. Zum Sonnenuntergang bekommt man Bier und zum Aufgang Kaffee. Es ist ein guter Ort, um Freunde zu finden, sich zu verlieben oder – so man nicht nur unterwegs ist, um sich selbst zu feiern – mit den Einheimischen zu sprechen. Auch in der guten alten Zeit, von der ich spreche, waren die wenigsten Backpacker, obwohl sie sich als linksalternative Traveller zum Massentourismus verstanden, interessiert, an den Menschen des Landes, das sie durchreisten. Auch damals waren Sätze wie „Indien wäre schöner, wenn es keine Inder gäbe“ zu oft zu hören. Oft wurde angehängt, dass es eh unmöglich wäre, mit Indern zu sprechen, da diese nur versuchten, einem das Geld aus der Tasche zu quatschen.
Dabei ist es einfach, mit dem indischen Hinz und Kunz Kontakt zu finden, man muss einfach nur sitzen bleiben und die Menschen, bei denen man Bier und Kaffee bestellt, nicht wie Sklaven behandeln.
Ein trauriger Moment meines Lebens war, als ich verstand, dass diese Hostels, die ich liebe, langsam aussterben.
Natürlich. Wenn man durch Asien reist, findet man immer noch überall Hotels die sich Hostel nennen. Aber sie sind genau das geworden: ein Name, eine Marke. Wer Backpacker ist: Reisender, kein Tourist, der trägt Flipflops und schläft im Hostel. Nun sind diese Markenhostels oft teurer als Hotels und bei aller Liebe zum Provisorium, die ich gestand, war der Preis auch immer ein guter Grund zum Hostel. Aber schlimmer ist noch, dass diese Hostels gar nicht mehr von Einheimischen improvisiert sind, sondern aus dem Katalog bestellt erscheinen. Sie versuchen besonders zu sein, gehen aber im ihrem Verlangen nach Einzigartigkeit unter wie ein Hipster in Berlin. Die Individualität scheint hier vom Fließband zu kommen, das Lebensgefühl ist Ware und sogar dem Aufenthaltsraum ist anzusehen, wie gern er eine Lobby wäre. Auf der Dachterrasse serviert man Kaffee Macchiato mit Sojamilch und vegane Snacks: McHostel.
Hier zeigt sich deutlich, dass die Backpacker nie Alternative zum, sondern immer Speerspitze des Massentourismus waren.
Entschuldigt. Aber als Mensch, der älter wird, muss man manchmal so reden, um zu verdauen, dass älter werden nicht heißt, sich zu verändern, sondern gleich zu bleiben, während die Welt sich verändert.
Was machte aber der kleine weiße Affe damals in Asien in den Hostels. Warum liebe ich die Dinger so?
Lass mich erzählen …

Tack

Ich muss nun Indien verlassen, denn auf der langen Reise, waren wir nicht nur dort. Als kleiner Spoiler sei verraten, dass in den folgenden Zeilen blaue Schlümpfe und Zahnstocher wichtig werden.
Aber zunächst gehen wir nach Thailand an die Strände Koh Samuis. Davon abgesehen, dass die Insel mich so verwöhnte, dass ich Strände, die nicht ihr Postkarten-Panorama-Idyll erreichen, ablehne, davon abgesehen, dass ich dort ein paar der schönsten Monate meines Lebens verbrachte, wurde ich auf dieser Insel zum Nerd.
Aber vor meiner Nerdwerdung, müssen wir über das Jahr 1981 sprechen. Koh Samui war noch nicht berühmt, Koh Samui war keine Tui-Insel voller All-Inklusive-Resorts, in denen Büroarbeiter und Schichtmenschen sich für ihre 3 Wochen im Jahr ein Leben kaufen können.
Wir hatten uns eine Hütte gemietet direkt am weißen Strand, direkt an den sanften Wellen. In der Hütte gab es eigentlich nichts, keinen Luxus. Und um die Hütte gab es nichts als Palmen und Strand. Die nächste Hütte war 20 Kindermeter entfernt. Der Strand war mein Strand. Ich schwamm und spielte im Wasser mit Kokosnüssen. Wenn ich mich still ins flache Wasser setzte, kamen kleine Fische und schwammen um mich herum. Im Restaurant gab es Schokoladenkuchen und Bananapancake, die erstaunlicherweise ohne Chilis zubereitet wurden. Nach dem Staub der Reise war ich im Paradies gelandet: ich war glücklich.
Eines Tages fanden wir in einem Regal am Strand ein Buch. Es hatte einen grünen Umschlag, auf dem eine Schlange und ein Auge abgebildet waren. Die Gefährten. Der erste Band der Trilogie „Der Herr der Ringe“. Als ich verstand, dass „Der Herr der Ringe“ eine Fortsetzung des „Hobbits“ war, kannte meine Freude keine Grenzen.
Bilbo Beutlin war mein Idol, denn auch er war auf einer Reise, auf der alles groß und unverständlich war.
Als meine Mutter mir den Satz: “Als Herr Bilbo Beutlin von Beutelsend ankündigte, dass er demnächst zur Feier seines einundelfzigsten Geburtstages ein besonders prächtiges Fest geben wolle, war des Geredes und der Aufregung in Hobbingen kein Ende.” vorlas, hatte ich auf der Reise eine Heimat gefunden, die ich auch nicht verließ, nachdem meine Mutter mich wieder nach Hause gebracht hatte.
Dies geschah zum Leid meiner Mutter, die mir diesen Satz und alle folgenden für die nächsten Jahre immer wieder und wieder vorlesen musste und weder an noch in ihnen etwas finden konnte.
Der Herr der Ringe veränderte mich, auch wenn mir Bilbo immer näher stand als Frodo.
Doch was hat dies mit Dachterrassen zu schaffen? Wo kommen Schlümpfe und Zahnstocher ins Spiel?
Geduld…

Tick

Einen Großteil der Reise, die meinem ganzen Leben eine Richtung geben sollte, verbrachte ich nicht an Stränden, was ein Glück war, sondern an der Hand meiner Mutter auf staubigen Straßen. Oft führten diese Straßen uns in hinduistische Tempel. Ich war und wurde zwar bis heute nie religiös, aber diese Tempel gehören zu dem Spannendsten, was diese Welt zu bieten hat.
Ich liebe es bis heute, einen solchen Tempel zu betreten, denn am Eingang muss man seine Schuhe ausziehen, so dass das Betreten, der Moment, in dem ich meinen nackten Fuß auf den kühlen Stein des Tempels setze, die Ouvertüre des Erlebnisses Tempel für mich ist. Was dann folgt sind die Gerüche: Raucherstäbchen, Körper, Früchte, Haaröl. Süße und Strenge. Kühle und Hitze.
Die Statuen der Gottheiten in den Tempelnischen und ihre Reliefs an den Wänden erzählten mir Geschichten, die meine kindliche Neugier anfachten: sie brennt bis heute.
Wieder musste meine Mutter leiden. All die 10002 Geschichten Indiens, die Bhagavadghita usw., jeden Hanumanstreich gibt es als Comic. Da ich nicht lesen konnte und es auch nicht lernen wollte, musste meine Mutter mir all die Comics, die ich finden konnte, vorlesen. So kannte ich die indische Mythologie gut, bevor ich erfuhr, wer Jesus sein solle. Meine Mutter kaufte auch einen Comic, der das neue Testament erzählte, aber Jesus langweilte mich und ausgestelltes Leiden langweilt mich immer noch.
Die Mythen und Figuren des Hinduismus hingegen haben einen Platz in meiner Fantasie eingenommen, der ein Teil meiner selbst geworden ist. Noch einmal: Das hat nichts religiöses. Ich unterscheide nicht zwischen Bilbo Beutlin und Shiva.
Und hier verbinden sich die Fäden.

Tack

Wir waren Backpacker. Wie Schnecken, das Haus geschultert, reisten wir langsam durch Asien. Natürlich hatte ich auch mein Päckchen zu tragen: in meinem Rucksack war allerdings nicht viel. Da waren die Bücher, die meine Mutter mir vorlas: Bhagavadgita, Mahabarata und Ramayana als Comics, der Hobbit und der Herr der Ringe.
Ich bestellte mir meine Geschichten am Abend kapitelweise, nachdem wir einmal durch waren. (Heute Abend bitte „die Wolken sammeln sich“)
Außerdem trug ich im Rucksack mit mir herum: meine Schlumpffigurensammlung und ein paar hinduistische Statuen.
Die Welt eines Kindes besteht aus der Welt außerhalb seines Kopfes und der Welt innerhalb seines Kopfes. Beide sind auf engste verzahnt und bilden in Balance die Welt, in der man lebt. Zumindest für mich, war die äußere Welt faszinierend und erschreckend zugleich, wohingegen mein inneres Versteck und Aussichtsturm war.
Bei vielen Erwachsenen, stellt sich die Situation anders dar, denn die äußere Welt spielt für sie keine Rolle mehr. Zu stark sind die Bilder, die sie innerlich gemalt haben und die sie nun wie ein – Brett vorm Kopp – mit sich herumtragen.
Ich war damals immer noch damit beschäftigt, meine Bilder zu malen und tat das im Spiel. Hier kam alles zusammen. Shiva duellierte Morgoth, Hanuman strich zusammen mit Aragorn durch Mittelerde und Gandalf traf Rama auf eine Pfeife.
Oft blieb ich, wenn mir Indien zu staubig und seine Kühe zu groß schienen, allein im Hostel und spielte mit Schlümpfen und Götterstatuen meine eigenen Mythologin hervor. Der große Schlumpf war der Gandalfschlumpf aber Shiva blieb Shiva, auch wenn er tanzte. Den fetten Buddha wusste ich nie ganz einzubinden, ich befürchte, ich habe ihn gemobbt.
Wenn wir unterwegs waren und ich hatte weder Schlümpfe noch Statuen dabei, wenn wir z.B. in einem Restaurant waren, spielte ich meine Epen mit Zahnstochern nach.
Oft ging ich auch, während meine Mutter Indien entdeckte, auf die Dachterrasse. Dort suchte ich nach Deutschen, denn mein Englisch war immer noch sehR schlecht – „NO MADAME, BOY!“
Also musste ich zuerst lauschen. Wenn ich meinte, Deutsche gefunden zu haben, überprüfte ich zunächst meine Vermutung – „sprecht ihr Deutsch?“
Wenn ja, übernahm ich das Gespräch.
Was ist das:
„Etwas, das alles und jeden verschlingt:
Baum, der rauscht, Vogel, der singt,
frisst Eisen, zermalmt den härtesten Stein,
zerbeißt jedes Schwert, zerbricht jeden Schrein,
Schlägt Könige nieder, schleift ihren Palast,
trägt mächtigen Fels fort als leicht Last.“

fragte ich.
Ich konnte viele Gedichte und Rätsel aus dem Hobbit und dem Herrn der Ringe auswendig. Ich erinnere mich aber nicht an offene Münder der Verwunderung. Mir erschienen solche Gespräche als ganz normal. Das man als 6jähriger auf Dachterrassen keine Gedichte rezitieren sollte, hatte mir niemand gesagt.
Jedenfalls sicherte ich mir oft mittels Rezitationen ein Publikum. Wenn mir dann die Gedichte ausgingen, mein Publikum aber blieb, wendeten wir uns ernsthaften Backpacker-Themen zu. Auch hier übernahm ich die Führung.
Ich frage, „Wart ihr schon in Varanasi?“
… wenn nein …
„Da müsst ihr unbedingt hin!“
Ich gab auch spezifische Tipps.
„Das Hostel Shiva Lounge ist sehr gut, die haben Bananapancake!“
Ich glaube ein paar Traveler schrieben mit, wenn ich sprach.
Ich war 6 Jahre und war auf der Reise zuhause. Und heute noch ist es wie nach Hause kommen, wenn ich ein echtes Hostel betrete. Die gentrifizierten McHostels der 3-Wochen-Weltreisenden verachte ich aber wie ein Veganer das McMeal.

Tick

Einmal stiegen wir in Indonesien aus dem Dschungel auf einen Vulkan. An den Weg herauf kann ich mich nicht erinnern. Oben gab es ein paar schweflig gelbe Felsen und Rauch. Es stank, ich war enttäuscht. Ich hatte mich auf Lavafälle gefreut. Trotzdem schien es mir kein schlechter Tag zu sein: weder nannte mich einer Madame, noch versuchte ein anderer, meine Haare anzufassen, auch sollte ich nichts scharfes essen und Kühe gab es auch keine.
Eigentlich habe ich auch an den Vulkangipfel wenig Erinnerungen.
Eigentlich hätte ich diesen Tag vergessen.
Dann begann es zu regnen.
Nein, denk nicht an Regen, denk an Wasserfälle – zum Glück waren sie nicht aus Lava.
So ein Gipfel ist ein schlechter Platz, wenn vom Himmel Wasser fällt.
Also steigen wir ab. Nun ja, wollten wir.
So ein kleiner Dschungelpfad ist nämlich auch kein besser Ort. Bald schon war auch unser Weg ein Bach. Wir gingen nicht, wir rutschten. Alles war Bach und nass und wir waren nass und im Fluss.
Denk dir eine Mischung aus Schlammschlacht und Schlittenfahrt ohne Schlitten und du hast es.
Was soll ich sagen, wir kamen unten an. Wir hatten da keine Wahl, nach oben wäre es wirklich nicht gegangen, Wasser fließt bergab.
Unten gab es eine Holzhütte. Wahrscheinlich waren da viele Holzhütten, aber die waren mir nicht wichtig, also erinnere ich mich nur an eine Hütte, in der gab es nämlich Nudelsuppe.
Diese Nudelsuppe war die beste Nudelsuppe meines Lebens: quasi meine Ursuppe.
Noch heute will ich immer, wenn es regnet, eine asiatische Nudelsuppe.

Tack

Dann war da Dharamkot. Oder wir kamen nach Dharamkot. Dharamkot war damals ein kleines Dorf im Himalaya in Fußweite oberhalb des nicht viel größeren Dorfes McLeod Ganj gelegen. Wer nichts über McLeod Ganj weiß, der kann sich ein Räucherstäbchen anzünden: McLeod Ganj liegt bei Dharamsala.
Da wohnt der Dalai Lama, wenn er nicht gerade auf Merchandising Tour ist.
Die ganze Gegend ist berühmt, für eine spektakuläre Aussicht, tibetische Maultaschen – ich schaffe kein Tick oder Tack ohne übers essen zu schreiben – und die Möglichkeit, erleuchtet zu werden. Dementsprechend finden sich und findet man dort jede Menge Sinnsucher, aber erstaunlicherweise wenig Gourmets, denn Momos – die tibetischen Maultaschen – sind die Reise wert, wohingegen ich jedem der erleuchtet werden will, empfehlen würde, zuhause das Licht anzumachen*. So spart er sein Geld, steht mir nicht in der Aussicht und stört die nicht, die wegen des Landes in das Land gefahren sind. .
Wir kamen, als wir das erstemal kamen, weder wegen der Momos noch des Dalai Lamas, sondern weil der Himalaya da ist, und meine Mutter ihn sehen wollte.
Heute kann man bis Dharamkot mit einem Bus fahren, aber damals mussten wir von McLeod Ganj aus laufen.
Ich kann mich nicht erinnern, wie wir in Dharamkot ankamen, doch wenn ich sterben müsste, um wiedergeboren zu werden und ich dürfte nur 10 Erinnerungen mitnehmen, Dharamkot wäre dabei.
Wir wohnten im Dharamkot in einem Bauernhaus, dort gab es damals keine Touristen, keine Hotels, keine Restaurants, keinen Strom und kein fließendes Wasser. Wir hatten bei einer indischen Familie, das Obergeschoss bezogen. Ein großer Raum war das mit Feuerstelle und soviel Luxus, wie man braucht, wenn man keinen braucht. Erreichen konnte man unser Obergeschoss nur über eine Außentreppe, die auf einer Miniterrasse – gerade groß genug für eine Mutter und ihren Sohn – Pause machte, bevor sie ins Haus führte.
Von der Terrasse herab konnte man aus den Himalaya hinaus in die indische Ebene schauen. Osten lag links, da ging die Sonne auf, Westen lag rechts, da ging die Sonne unter. Wer wollte, konnte dort den ganzen Tag sitzen und der Sonne dabei zusehen, wie sie auf die indischen Ebene mit Schatten spielte.
Unten an der Treppe angebunden, lebte eine Ziege. Diese Ziege war zwar kleiner als die mickrigste Kuh, aber sie ignorierte mich nie, so wie es alle Kühe taten, die mich eher versehentlich anpissten. Jedes Mal, wenn ich nach unten ging, griff sie mich an und rammte mir, wenn ich nicht schnell genug war, ihren Kopf so in meine Seite, dass ich in ihrer Scheiße landete. Deshalb rannte ich immer nach unten, um aus dem Leinenradius der Ziege zu kommen. Es gelang mir zwar nicht immer, aber unser tägliches Spiel, das ich hasste, erfreute das ganze Dorf: an ihr Lachen habe ich mich nie gewöhnt.
Am ersten Tag – und auch an allen folgenden – musste ich aufs Klo. Das stellte mich insofern vor ein Problem, dass es kein Klo gab: nicht im Haus und auch nicht ums Haus. Irgendwie schaffte irgendwer zu verstehen, was mein Problem war und die Dorfjugend brachte mich zu einem kleinem Acker ein paar Meter höher, auf den sich die Hausgemeinschaft, zu der wir jetzt gehörten, geeinigt hatte, wenn es ans scheißen ging.
Also schiß ich ins freie und alles was auf zwei Beinen ging und gerade nichts zu tun hatte, schaute mir interessiert zu. Wahrscheinlich wollten sie wissen, ob weiße Affen, weiße Haufen legten.
Wenn wir kochen wollten, mussten wir Feuer machen und dazu Holz sammeln. Als meine Mutter das erste mal mit mir Holz sammeln ging, gab sie sich Mühe, soviel Holz zu nehmen, wie sie nur tragen konnte – das war nicht viel. Ich hingegen trottelte träumend hinter ihr her und hob hier und da auf Aufforderung hin ein Zweigchen auf. Als wir nach Hause kamen, hatte meine Mutter wenig und ich gar kein Holz dabei: sie war böse auf mich.
Das Dorf half. Kurze Zeit später hatte ein kleiner Junge, der kleiner war als ich, einen großem Ballen Holz, der größer war als ich, für uns gesammelt und geflochten. Meine Mutter war dankbar und ich hatte Angst, ausgetauscht zu werden.
Ich fürchte, dass ich nie ein guter Holzsammler werde, aber dafür träume ich immer noch.
Meine Mutter genoss es, zur Abwechslung selbst kochen zu können. Allerdings brauchten wir dazu noch Wasser. Das wurde zu meiner Aufgabe und so ging ich oft zur nächsten Quelle, Wasser zu holen. Ich machte das sogar gern, denn jedes mal trank** ich einen großen Schluck Quellwasser, wer noch nie Bergquellwasser getrunken hat, der kann nicht wissen, wovon ich spreche.
Wenn wir also Holz und Wasser hatten, kochte meine Mutter und ich saß neben ihr und starrte ins Feuer und konnte vom Himalaya durchs Feuer nach Mittelerde sehen: ich erfand Geschichten und war glücklich, denn es gab bald was zu essen.
Oft machte meine Mutter mir aus Kakaopulver und Butter Nutella, ich war so dankbar, wie es nur ein nutellawehkranker Wohlstandsjunge sein kann.
Um unsere Wäsche zu waschen, mussten wir zu einem Wasserfall laufen. Das brauchte so eine halbe Stunde einen Brennnessel gesäumten Pfad entlang. Ich war mir sicher, dass die Brennnesseln mich so wenig mochten wie die Ziege und mit ihren Zweigen nach mir nesselten, bis ich in Flammen stand. Aber trotzdem war der Weg sehr schön. Nach den Nesseln ging es dann am Grund einer steilen Schlucht weiter und da war er. Zugegeben er war nicht der größte, tiefste, donnerndste Wasserfall, den sich ein Phantasieunbegabter vorstellen kann, aber dieser Wasserfall wird für mich immer der Wasserfall bleiben, in dessen kleinem Teich ich schwamm, während meine Mutter wusch und an dessen Ufern ich die Wäsche trocknete, indem ich sie auf indische Art gegen Felsen schlug: ich stellte mir dabei vor, ich kämpfte gegen Trolle.
In Dharamkot hackte ich mir auch eine Axt*** in den Fuß und fand einen indischen Freund.
Mein Angriff auf meinen Fuß entsprang wahrscheinlich dem Wunsch, besser Holz zu sammeln als das Dorf. Also versuchte ich Holz zu hacken. Genauer gesagt versuchte ich, ein großes Wurzelstück mit einer Sichel entzwei zu schlagen. Die Wahrheit ist, dass ich nicht mehr weiß, warum ich versuchte, was ich versuchte. Ich weiß noch, dass ich mit der Sichel in der Hand vor der Wurzel saß und dass die Sichel als nächstes in meinen Bein steckte. Ich habe keine Ahnung, wie ich das gemacht habe, aber die Narbe kann man bis heute sehen.
Mein indischer Freund hieß Subash und er muss ungefähr in meinem Alter gewesen sein. Sein Vater war bei einem Unfall gestorben und er war im Dorf der Außenseiter, doch wir waren Freunde. Erst jetzt merke ich, dass ich nicht mehr weiß, was wir spielten. Meine Mutter meint, das läge daran, dass Subhasch gar nicht wusste, wie man spielt. Aber das war egal, ich werde ihn nie vergessen, auch wenn ich mich kaum an ihn erinnern kann.
Wie blieben insgesamt 3 Monate in Dharamkot und kamen ein halbes Jahr später noch mal wieder. Subhasch traf ich noch einmal als ich fast 30 war, aber das ist ein anderes „Tick … Tack“.

* Wahrscheinlich kann nur der Erleuchtung finden, der akzeptiert, dass es keine Erleuchtung gibt.
** Dabei fiel ich einmal in die Quelle: das Dorf lachte.
*** eigentlich war es eine Sichel.

Tick

In Asien sah ich noch viel, wovon ich noch heute träume, nicht umsonst macht es mich heute noch glücklich wie ein kleines Kind, in China spazieren zugehen.

Aber damals gingen wir zurück nach Berlin und das bekam mir nicht. Aber über das

Tick

meiner Schulzeit und das

Tack

der Pubertät

schreibe ich später.

TickeTackeTickeTacke Kallekacke




Affenkarussell

Ich bin im Juli in Nanjing gelandet aber heute – im November – fühle ich mich immer noch schwerelos und unverbunden. Das ist nicht schlecht, das ist nicht gut: das ist das Leben, das ich immer wollte, ohne dass ich es kannte und das ich nun, da ich es lebe, verwundert betrachte wie Fremde, die ich morgens in meiner Wohnung finde, und die mir sagen, sie gehörten zu mir.
Nur, von welchem Wohnen spreche ich? Ich bin immer weitergegangen und dabei ein Reisender geblieben: Jekaterinburg, Berlin, Changsha Nanjing: vier Heimaten – 6 Jahre; nachts fahren sie in meinem Schädel Karussell mit mir und wenn ich erwache, weiß ich nicht, wo ich bin.
Der weiße Affe klatscht dann begeistert in die Hände und macht Affenlaute – NochmalNochmalNochmal – aber Herr Buchholz liegt still in mir und denkt an Kreise und Ziele.
Als ich Changsha verließ, hatte ich die Schnauze voll von der Stadt, ich hatte genug von diesem Ort wie selten von einem zuvor. Changsha war mir zu laut. Changshas Lärm verfolgte mich bis nach Hause, mein Haus wurde entkernt und saniert und dasselbe geschah mit der ganzen Stadt: geschieht vielleicht dem ganzen Land: Entkernung und Sanierung. Doch ich greife zu weit, will nicht über den Staat China schreiben, nur über die Stadt Changsha und die ist eine Baustelle.
Changsha ist eine Baustelle. Wem das bekannt erscheint, bitte melden. Und jetzt runter mit den Händen: Ihr habt nicht recht. Vergesst Berlin: Berlin ist keine Baustelle, ist es nie gewesen. Verglichen mit Changsha: verglichen mit chinesischen Stadtprojekten ist Berlin ein Sandkasten ohne Förmchen; ein Plan ohne Ideen. Aber immerhin: Berlin darf wachsen, wo Changsha es soll, es muss.
Changsha soll mit der Nachbarstadt Zhuzhou zusammenwachsen. Wobei wachsen wohl das falsche Wort ist, bei wachsen denke ich an Bäume, an Städte, deren Bewohner ihre Glieder strecken, sich ausbreiten und die Stadt ins Umland mitnehmen. Ein Wachstum also, das vielleicht einem inneren Gesetz, seiner DNA folgt, dem aber kein bürogemachter Plan zu Grunde liegt.
Geht man in Changsha nach Süden, dann kommt man in den Raum zwischen den Städten, die eine Stadt werden sollen. Wer Berlin kennt und sich an das Baustellchen am Potsdamer Platzes erinnert, dehne einfach seine Erinnerung auf die Fläche Neuköllns aus und sieht Südchangsha. Im Rest der Stadt stehen die Baustellen in der Stadt wie schmutzige Oasen. Im Süden erstreckt sich eine einzige Baustelle: ein Meer aus Beton, Lärm und Arbeit. Hier muss das neue Stadtzentrum von Changsha/Zhouzhou werden.
Merkwürdigerweise sind die Parks in diesem Zentrum in spe schon fertig: kleine grüne Inseln im Betonmeer, die schon bewohnt sind. Vor einen Jahr als meine Freundin noch Obst Obst hieß, war ich dort. Es sind schöne Parks unter Kränen. Es gibt künstliche Seen und alte Flüsse, Hügel, Teestuben und McDonaldsfilialen und es sind viele Menschen hier. Auch wenn noch gebaut wird, sind die Parks schon in Betrieb. Die Parkbesucher spazieren, essen, lachen, scherzen, angeln, spielen Mahjongg, Karten oder Federball und regelmäßig bricht sich über ihnen eine Lärmwelle, wie das ohrenbetäubende Schlagen eines Großbohrers. Das erstaunliche war, niemanden schien es zu stören. Während mein Kopf bald schmerzte, machten die Flaneure weiter, als wäre der Lärm Teil einer Parallelwelt, die nur weiße Affen erreicht. Dieser Affe und Herr Buchholz waren sich aber einig, sie wollten schnell weit weg und nicht zurückkommen.
Doch auch in den bewohnten Bezirken der Stadt sind Baustellen Teile des Ganzen, das Changsha ist, und überziehen sich selbst mit einer Schliere aus Lärm und Staub.
Hier denken Herr Buchholz, der Weiße Affe und ich oft, wir seien ein Alien. Wir stehen im Licht der Neonversprechen der Reklametafeln, die die Turmbauten umranken und beobachten Menschen, die auf ihren Wegen von A nach nirgendwo laufen und dabei nichts sehen, weil sie nur ihr Handy sehen.
Ich frage mich: „was tun sie und warum tun sie es.“?
Die Hochhäuser stören meine Sicht. Zwischen ihnen fühle ich mich allein, denn hinter den Glasfassaden liegen – das weiß ich – abertausende Quadratkilometer Büroraum, bewohnt von Büromenschen und die sind mir fremder als Höhlenmenschen, denn Höhlenmalereien verstehe ich, aber Aktienkurse nicht.
Eines ist sicher, sie sind modern und ich bin hier der Primitive.
Changsha war mir oft unheimlich.
Heute in Nanjing ist mir vieles wieder vertrauter. Da ist zunächst mein Heim, das erfreulich kakerlakenfrei ist. Ich fühle mich zuhause im 6 Stock meiner mittelalten Mietskaserne, gelegen in einem Labyrinth autobreiter Gassen.
Nicht weit weg ist die Schule, in der ich nun arbeite, und um mich herum sind erfreulich wenig hohe Häuser. Manche haben tatsächlich nur ein Stockwerk, bilden krumme und schräge Gassen, in denen ich zwar China finde, aber auch, wenn ich Heimweh habe, deutsches Brot, Steinofenpizza und gutes Bier bekomme. Nanjing ist schön und komfortabel. Nanjings Straßen sind gesäumt von Bäumen, die das goldene Licht grün brechen.
Ich mag es, in Nanjinger Bars zu gehen und Menschen zu treffen, mit denen ich reden will. In Changsha hatte ich in der einen europäischen Gastarbeiteraffenbar das Gefühl, das die Gäste nur deshalb miteinander redeten, um sicherzustellen, dass sie alle das gleiche sagen, um zu zeigen, dass sie zusammengehörten: es war, als wären sie Comicfiguren, über deren Köpfen leere Sprechblasen hingen. Nie kam mir reden so sinnlos vor wie dort, aber hier rede ich wieder gern.
Nanjing ist schön und fast leise, doch fallen mir zur Erklärung meines Nanjinger Lebens nicht viele Worte ein. Denn die Straßen Nanjings sind voller tief hängender bürgerlicher Früchte, die nie, niemals Verdauungsstörungen bringen und mich zwar sättigen, aber nicht inspirieren. Kurz, mir geht es zu gut und wie immer, wenn es mir zu gut geht, beginne ich, mich zu langweilen.
Und plötzlich vermisse ich Changsha. Die Stadt Changsha, die mir oft eine Staub produzierende Maschine zu sein schien, fehlt mir. Wo ich oft nur Baustellen sah, vermisse ich nun das Unfertige. Die Provisorien zwischen den Baustellen erscheinen im Kontrast zu den fertigen Schaufenstern ehrlicher. Die Zwischenlösungen, in den Zwischenräumen ließen mich träumen, nun erscheint mir das Grobe der Stadt, aus der ich komme, gegenüber dem Glatten der Stadt, in der ich bin, wie Punk gegen Pop.
Wenn es dem Esel zu gut geht, vermisst er die Revolte. Noch bin ich aber nicht so eselig, dass ich zurück möchte. Im Gegenteil, ein paar Jahre noch, werde ich Pop hören und Punk nur denken. Doch zu lange soll es mir nicht zu gut gehen, dass wäre nicht gut für mich.
Letztendlich vermisse ich auch hauptsächlich Menschen aus Changsha. Das sind Jan, den ich immer sehen könnte, da er nicht weit ist; Lena und WZZ, mit denen ich ein eigenes Kapitel füllen sollte und Ting Ting, meine Freundin.
Also noch etwas bleiben im modernen chinesischen Luxus und dann zurück? Weiterreisen? Ankommen? Ein Buch schreiben?
Ich will mein Karussell nicht stoppen und zurückdrehen kann es man es nicht. Doch machen mich die Runden durch Frühling, Sommer, Herbst und Winter vorbei an Berlin, Indien, Berlin, Jerusalem, Berlin, Lissabon, Indien, Stonetown, Berlin, Jekaterinburg, Changsha und alten Freunden nach Nanjing und darüber hinaus traurig und froh. Alle Stationen lassen sich trefflich lieben und hassen.
Tick Tack, das Karussell vergeht und mir bleibt nur die Reise. Ich habe keine Wahl, oder besser, ich habe sie schon lange getroffen. Viele Menschen bleiben zuhause, weil sie die Fremde fürchten, ich gehe gern ins Fremde, weil mir Heimat unheimlich ist, denn wenn ich zuhause bin, soll ich dazugehören, unterwegs aber, darf ich Durchreisender bleiben, bin schwerelos und unverbunden.




China, Herr Buchholz und der Weiße Affe.

Mein China ist eine schmale Straße, die eher unentschlossen von Nord nach Süd geht: die Lushan Lu. Dort wohne ich und es ist der Ort, an dem sie mich Herr Buchholz nennen. Hier leben viele Chinesen, die wichtig sind, meine 63 Schüler, die mir wichtig sind und ein Weißer Affe, der sich für wichtig hält.
Herr Buchholz macht sich oft Sorgen, weil er das Gefühl hat, er sei nicht mehr so anpassungsfähig wie früher, dass er sich wie ein alter Mann verhalte. Der Weiße Affe mag, dass die Frauen hier Weiße Affen mögen und dass keine ihn wie einen alten Affen behandelt. .

Auf der Lushan Lu, da ist China …

Die Lushan Lu ist ein Faden, auf dem ich täglich hin und her rase, wie das Schiffchen einer alten Webmaschine. An der Lushan Lu liegen drei Universitäten, ein paar Schulen und Einkaufszentren und eine Unmenge von Restaurants, deren Besitzer die Tische zurechtrücken, wenn sie den weißen Affen sehen. Herr Buchholz meint, die Straße sei der Faden, an dem er täglich ziehe, woraufhin ihm jeden Tag China ins Gesicht schlage, er versuche alles zu sehen und zu verstehen; der Weiße Affe, dem egal ist, ob er verstanden wird, hört Herrn Buchholz selten zu.
Auf der kleinen Lushan Lu gibt es alle Arten von Geschäften, Läden, Restaurants und sogar einige Bars. Es gibt Gemischtwarenläden, die aussehen, wie Berliner Späties, die aber schließen, wenn ein Berliner Trinker erwacht.
Es gibt Gebrauchswarenläden, wie es sie in Deutschland einmal gab. Im einem sitzt in seinem Chaos ein runzliges Männchen, das genauso gebraucht aussieht wie seine Waren. Er kann zahnlos lächeln, und wenn ich komme und mal wieder auf eine Glühbirne zeige, spricht und lacht er. Dass ich kein Wort verstehe, weiß er, doch stört es ihn nicht. Denn Einkaufen ohne zu schwatzen, das geht nicht. Herr Buchholz kann ihn weder verstehen noch antworten, doch der weiße Affe lacht einfach mit, wenn der lacht. Das scheint ihm zu genügen und kann manchmal Minuten lang so gehen.
Herr Buchholz meint, das Affengeschnatter sei schuld daran, dass ich kein chinesisch lerne. Aber der Weiße Affe weiß genau, dass Herr Buchholz es genießt, nicht jeden Idioten zu verstehen. Ich sage dazu nichts.
Auf der Straße bekäme ich Kleidung nach chinesischer und westlicher Tradition und alles andere, doch meisten gehe ich hier in Restaurants essen, deren Speisekarten nicht das bieten, was in deutschen Zoohandlungen verkauft wird. Meistens steht Schwein auf der Karte. Der Affe und sein Herr finden das schade.
Dazwischen liegen auch zahlreiche Bäckereien, die aber mehr Lifestyle als Essen sind, denn wenn es ernst ist, morgens um 7:00, wenn man einen Kaffee braucht, sind sie geschlossen.
Die Bäckereien verkaufen süßes Brot und noch süßeren Kuchen und spielen süße Musik. Hier werden fast ohne Pause Liebeslieder gespielt. Es sind immer westliche Lieder, die Stimmung soll hier westlich sein. Die Kundschaft besteht meist aus dünnen Frauen und ihren männlichen Accessoires. Das Thema der Cafés ist Liebe und die soll europäisch sein. Herr Buchholz notiert, dass auch in China Liebe dann interessant sei, wenn man anders liebt, als es die Eltern machten. Der Weiße Affe addiert, dass das alles nett sei, dass Herr Buchholz sich aber dringend um seinen Sex kümmern soll, indem er sich neben die Dame am Nebentisch setzt. Herr Buchholz meint, sie sei zu jung und dünn und beißt in seinen Kuchen. Der Weiße Affe möchte die Dame beißen.
In der Bäckerei versucht Herr Buchholz seine Chinabilder mit Buchstaben auszumalen. China erlebe einen Umbruch, schreibt er, wie man ihn noch nie sah, wie es ihn vielleicht heute in verschiedenen Ländern gäbe, der aber in der Geschichte einmalig sei. Das Land erlebe eine Revolution des Lebens auf allen Ebenen und scheine an sich selbst zerbrochen. Doch ergäben diese Bruchstücke eine Einheit, die die Vielheit des neuen Chinas sei. Wer als Besucher die Augen offen halte, dem flögen die Eindrücke um die Ohren. Vielleicht könne man mehr sehen, wenn sich die Augen an den Lärm der Explosion gewöhnt haben, bis dahin aber könne er nur Bruchstücke beschreiben. Könne ein Land beschreiben, dass sich verändert. Die Industrielle, die Digitale und auch die Sexuelle Revolution seien in China eine Symphonie, bei der man nie wisse, welche Strophen improvisiert und welche komponiert seien. Dinge die in Europa nacheinander geschähen sind, geschehen hier gleichzeitig. Alt und neu, Traum und Realität stünden ineinander, liefen Hand in Hand. Ob sie sich ergänzter widersprächen, wüssten wohl weder die Sänger noch das Publikum, schreibt Herr Buchholz. Der Weiße Affe gähnt und weiß, dass Herr Buchholz viel redet, wenn er keinen Plan hat.
Herr Buchholz schreibt weiter, dass vielen Gästen China ein lautes Einerlei, ein großer Gegensatz in sich und gegen sie sei. Aber davon wird er ein andermal erzählen, wenn ich von den Langnasengastarbeiteraffen schreibe. Der Weiße Affe mag die Langnasenaffen nicht, weil sie ihn daran erinnern, wer er ist und was nicht.

Auf der Lushan Lu, da ist der Verkehr …
Viele halten mich für mutig, weil ich nach China ging, dabei war es nicht schwer nach China zu gehen; viel schwerer fällt es mir, in China eine Straße zu überqueren, selbst wenn sie so dürr ist wie die Lushan Lu. Der Verkehr ist hier weder so brutal wie in Bangkok, noch so viehisch wie in Indien, doch reicht es, um den Affen zum alten Mann zu machen.
Denn hier sind Verkehrsregeln Richtlinien, die niemand kennt. Herr Buchholz kennt das aus anderen Ländern. Das Rot, Gelb, Grün der Ampeln ist nur Lichtshow. Zebrastreifen sind ein Muster ohne Wert, wer sie ernst nimmt, endet selbst als Muster auf der Straße. Wer schaut, wird übersehen, der einzige Weg über die Straße ist, blind zu laufen. Zu Beginn gab mir dieses Verkehrsdrama nur ein Echo in meinem Kopf.
Meistens klang es so in meinem Schädel, wenn ich eine Straße überquerte:
„MeinGottMeinGott-diesmalerwischtesmich-GottGottGott-ichmusshiersterben-OhmeinGott!“
Später wurden die Gedanken offensiver:
„Arschloch-blöderWixxer-kommmirnichtzuhahe-duscheißAuto!“
Selten gelang mir buddhistische Ruhe auf den Straßen:
„—————————————————–“
Heute bin ich im Verkehr laut, Denn der Weiße Affe erwachte in mir. Er ist eigentlich ein scheues Tier, doch fühlt er sich vom Verkehr in die Enge getrieben.
Wenn drei Autofahrer meinen, der beste Ort sich gegenseitig gleichzeitig auf wechselnden Spuren zu überholen, kurz vor dem Zebrastreifen sei, wenn von der anderen Seite ein Bus kommt, dessen Fahrer nie auf die Idee käme zu bremsen, dann übernimmt der Weiße Affe mein Ruder, dann steht auf dem Zebrastreifen ein schimpfender Deutscher. Er schimpft laut und gallig. Er schimpft auf Autos im allgemeinen und auf chinesische Autofahrer in besonderen, Worte wie Trottel und Idiot sind nett, im Vergleich zum Schimpfen des Affen, er schimpft wie ein alter Mann, der mit der Jugend unzufrieden ist. Aber simsalabim saladu saladim, sobald er die andere Straßenseite erreicht, bin ich wieder da und schäme mich für meinen Affen. Mein Affe aber lacht darüber, wie alt er ist, wenn er im Verkehr steht.
Besonders laut schimpft der Weiße Affe am morgen, wenn er müde ist. Ich denke, dass meine Schüler den Affen manchmal am Morgen begleiten sollten, so könnten sie in nur wenigen Minuten alles lernen, was sie über deutsche Schimpfwörter wissen müssen und ich könnte mir die Lektion im Unterricht sparen. Allerdings will Herr Buchholz nicht, dass seine Schüler wissen, dass ihr Lehrer ein Affe ist.
Überhaupt stören mich viele Dinge dann, wenn ich müde bin. Da ist zum Beispiel das chinesische Gerotze und Geschmatze. Während des Tages ist das halt so, da kann man halt nichts machen, da sind sich der Affe und Herr Buchholz einig. Aber am Morgen, wenn ich müde bin, dann kann ich’s nicht ertragen. Stell dir folgende Situation vor. Es ist früh, du gehst zur Arbeit. Du arbeitest an einer Uni in der Mitte einer langen Straße. Die Straße herauf und herab liegen viele chinesische Studentenwohnheime. Am Morgen ist die schmale Straße körpereng und die kleinen Restaurants sind voller Körper. Du musst früh aufstehen, um einen Tisch für dich zu bekommen. Oft gelingt dir es nicht. Dann sitzt du mit vielen Chinesen an einem Tisch, alle Chinesen starren apathisch in ihre Suppe und schlürfen und schmatzen laut.
Herr Buchholz und der Weiße Affe reagieren ganz unterschiedlich auf diese interkulturell kritische Situation.
Herr Buchholz, der ethnologisch geschult ist, versucht es meist mit Geduld, welche bald in stummes Leiden mündet. In jeder Sekunde werden die Laute der offenen Münder eindringlicher. Die müden Augen um ihn herum erscheinen Herrn Buchholz immer blöder. Unwillentlich wie ein Furz entfährt ihm ein tadelndes Schnauben und mit bösem Blick fixiert er besonders enthusiastische Schmatzer. An besonders müden Morgenden tadelt Herr Buchholz sie auf Deutsch. Doch niemand versteht ihn und niemand ist sich irgendeiner Schuld bewusst. Niemals.
Natürlich nicht, notiert Herr Buchholz. Sie machen ja auch alles richtig, sie sind wie Chinesen in China. Müde starrt er in seine Nudelsuppe und überlegt, ob er mitschmatzen oder sich in seiner Suppe ertränken soll. Er fühlt sich wie eine alte Dame, die eine Zuckerzange im Herzen trägt, er fühlt sich alt.
Der Weiße Affe, der auch ethnologisch geschult ist, ist weniger geduldig als sein Herr. Außerdem – das wissen nur wenige – versucht der Weiße Affe Herrn Buchholz zu schützen. Er mag ihn. Wenn also der Essenslärm der Chinesen Herrn Buchholz traurig macht, dann putzt sich der Weiße Affe die Nase. Er trompetet lang, er schnaubt sich laut, denn das finden Chinesen ekelhaft. Meist folgt dem affigen Nasenkonzert Stille. Das Schmatzen verstummt, die Chinesen schauen mich an. Aber keiner sagt etwas, denn China ist ein ausländerfreundliches Land. Weiße Affen werden hier respektiert.

Auf der Lushan Lu da ist der Musiklärm
Neben dem Verkaufsgeschrei und dem Gehupe steuert jeder kleine Laden, jedes Restaurant seine eigene Musik zum Sound der Straße bei. Wenn ich hinschaue, sagen mir meine Ohren, wo ich bin, denn manche Läden spielen den ganzen Tag dasselbe Lied. Die meisten Lieder kenne ich nicht. Ich kann chinesische Popstücke nicht unterscheiden, es sei den, es geht um Äpfel. „Der kleine Apfel“ war der Hit des Jahres. Es ist so nervös und optimistisch wie China selbst, und wurde für mich zum Rhythmus der Stadt. Wenn man man irgendwo in Changsha bleibt und lauscht (am besten mit Ohrenstöpseln), kann man immer den „kleinen Apfel“ hören. Wenn er rechts von dir verstummt, spielt er hinter dir, streiken die Läden, kommt eine Chinesin vorbei und singt.
Der allgegenwärtige Lärm ist eines meiner wenigen Probleme in und mit China, ich gewöhne mich nicht daran, es lässt mich affig werden. Immer wird gehupt, gebrüllt und gelärmt. Herr Buchholz vermutete, der Lärm wäre Vergnügen. Da er das Warum nicht kannte, dachte er, die Antwort sei, dass der Lärm Spaß mache. Das ist falsch, oder besser es ist nur die halbe Wahrheit. Herr Buchholz hat seine Probleme mit diesem Spaß, da dem Weißen Affen aber solche Dinge für gewöhnlich Spaß machen, habe ich ein Experiment gemacht – teilnehmende Beobachtung – der Affe sollte mitlärmen: er hatte keinen Spaß. Allerdings verstummte der Weiße Affe auch nicht, sondern wurde immer lauter.
Heute lärmen wir immer noch mit, leider schreien wir nicht aus Spaß, sondern aus Wut. Wenn es um mich wieder brüllt, hupt und lärmt, dann brülle ich dagegen an. „Halts Maul“, brüllt der Weiße Affe, “Seid still, ihr seid alle dumm“, brüllt Herr Buchholz. Ich bin mir einig, es ist zu laut.
Vielleicht ist das ja auch die Lösung: halb China brüllt, weil’s ihnen Spaß macht und die andere Hälfte brüllt, weil’s ihnen zu laut ist. Ich weiß, dass meine Erkenntnis keiner ethnologischen Prüfung standhält, aber das ist, wie der weise Weiße Affe weiß, egal.

Auf der Lushan Lu da sind die Chinesen
Ich kann nicht aufhören, mich über die Menschen auf der Straße zu wundern. Man sieht faltige und frische Gesichter, Mao-Anzüge und Miniröcke in amerikanischen Farben. Manche Menschen hier kommen aus reichen Familien und wohnen in Palästen. Andere kommen aus Hütten und kehren jeden Abend in diese zurück. Auf der Lushan Lu findet – wer sucht – McDonalds, KFC, Starbucks und Pizza-Hood Filialen. Es gibt die teuersten und die billigsten Restaurants, verlässt man die Straße, geht man nur wenige Schritte in die umliegenden Gassen, sieht man selbstgebastelte Baracken, deren Bewohner auf jedem freien Meter Gemüse anbauen. Das ist kein Hobby, das müssen sie machen, um zu leben. Und alle freuen sich, mich zu sehen. Die höheren Söhne und Töchter wollen ihr – meist schlechtes – Englisch an mir ausprobieren.
Wenn ich das zweite Mal in einem kleinen Imbiss esse oder trinke, dann freuen sie sich besonders. Oft lassen sie alle in der Schlange stehen, um mich zuerst zu bedienen. Hier bin ich ein VIP. Herr Buchholz notiert: „China macht Spaß, aber es verdirbt den Charakter.“ Ich weiß nicht, was der weiße Affe dazu sagen würde, denn der ist abgelenkt. Das Restaurant, in dem wir heute zu Mittag essen ist so voll, dass mich die (von mir begeisterte) Besitzerin an einen vollen Tisch gelotst hat. Als sich die Essensdämpfe verzogen haben, erkennen Herr Buchholz und sein Affe, dass sie von glücklichen Zahnspangen umgeben sind. Jungen weiblichen Zahnspangen. Und sie alle sahen uns an. Herr Buchholz wurde ganz schüchtern, der weiße Affe warf sich in Heldenpose.
Die eine sagte: „You are so handsome“. Die andere machte weiter: “Really handsome“.
Der schüchterne Buchholz richtete sich ein paar Zentimeter auf, der alberne Affe wurde zum weißen Aufblasballon.
Sie wollten mit mir sprechen, meine Telefonnummer haben und mich bald wiedersehen. Herr Buchholz versucht oft, die Situation zu beenden, indem er sagt, wie alt wir sind. Der Weiße Affe lässt ihn machen, denn er weiß, es ist den jungen Frauen egal. All die Komplimente und Aufmerksamkeit machen mich jung. China macht mich jung. Herr Buchholz schafft es nicht, einen vernünftigen Satz dazu zu schreiben und der Weiße Affe ist damit beschäftigt, die nächsten Schritte zu planen.

Die Lushan Lu in den Jahreszeiten.

Nun bin ich über ein Jahr hier und kenne die Lushan Lu zu allen Jahreszeiten. Der Sommer ist mir hier wie überall die liebste Jahreszeit, auch wenn es im Spätsommer unheimlich werden kann, dann beginnt nämlich das erste Studienjahr der neuen Studenten und das beginnt mit einem militärischen Training. Die ganze Lushan Lu scheint dann in Tarnfarben gestrichen und Herr Buchholz und sein Affe rücken nah zusammen, alles militärische mögen sie nicht.
Früher mussten die Studenten ihr Militärtraining sogar auf dem Land in Militärcamps machen. Aber heute werden sie in der Universität gedrillt. Ein Student erklärte mir, dies sei so, weil das Training vor allem die nötige Disziplin fürs Studium aufbauen sollte. Ein anderer unterbrach und sagte, dies sei Unsinn, das Training bereitete auf die Verteidigung des Vaterlandes vor. Es fände nun in den Universitäten statt, weil manche Eltern sich beschwert hätten, wenn ihr Zögling beim Training gestorben sei. Wenn in der Universität trainiert würde, dann wären solche Dinge das Problem der Uni und nicht des Militärs. Der Weiße Affe, der ein Zyniker ist, glaubt eher an die zweite Erklärung. Die erste wiederum findet Herrn Buchholz‘ Sympathie, denn er ist Lehrer.
Wenn dann das Semester Alltag wird, ist es auch schon fast Weihnachten. Die Chinesen lieben Weihnachten. Einige Restaurants, viele Geschäfte und alle Bäckereien ergeben sich dem Weihnachtswahn. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht wollen sie auch Geschenke, vielleicht suchen sie ein wenig Exotik. Wahrscheinlich ist Hollywood schuld. Ich weiß es nicht, aber man sieht überall in der Stadt chinesische Weihnachtsmänner. Zu Maos Füßen, vor der Statue des großen Steuermanns, tanzen chinesische Weihnachtsfeen gehüllt in ein rotes Weihnachtsnichts. Ich weiß das genau, Herr Buchholz und der Weiße Affe haben sie lange beobachtet. Als Langnase wird man dieser Tage zum begehrten Fotomotiv, wenn man vor irgendeiner Weihnachtsdekoration steht.
Das alles ist nicht schlimm, schlimm sind die Lieder. Ab Anfang Dezember gibt es keine Tage mehr ohne Weihnachtslieder, ab Mitte Dezember vergeht keine Stunde ohne jinglelei. Das Problem ist, dass die Chinesen nicht viele Weihnachtslieder kennen, sich davon aber nicht abhalten lassen. Leicht kann es passieren, dass man in zehn Minuten vier Versionen von jingle bells hören darf.
Oh, jingle bells, jingle bells
jingle all the way

Ich habe erst in China verstanden, dass das eine Drohung ist.
Hin und wieder werden auch deutsche Weihnachtslieder gespielt. Stille Nacht, Oh Tannenbaum, die üblichen Verdächtigen. Meine beiden blinden Passagiere sind beunruhigt.
„Das gehört nicht hierher“, knurrt Herr Buchholz, „Ich will nach Hause“, jammert der Affe. „Aber eigentlich“ notiert Herr Buchholz kurze Zeit später, ist das Unbehagen, das ich fühle wohl dasselbe Unbehagen, dass ein Chinese fühlt, wenn er in Berlin in jedem Schaufenster Buddhastatuen und die Speisekarten der chinesischen Restaurants mit falschen Konfuzius-Zitaten gewürzt findet. Das was Hinz und Kunz unter europäischer Kultur verstehen – Weihnachten, Beethoven und das Recht sich über andere Kulturen lustig zu machen – gehörte nie nur nach Europa.
Das beliebteste Weihnachtslied ist aber auch in China „Last Christmas“. Für mich ist eigentlich nicht Weihnachtszeit, bis ich das erste Mal die Strophen
Last Christmas I gave you my heart
But the very next day you gave it away
This year, to save me from tears,
I’ll give it to someone special
gehört habe.

Herr Buchholz findet den Text unbeschreiblich frustrierend und er hat notiert, dass er mehr in ihm findet, als er über Menschen wissen will. Der Weiße Affe findet ihn unsagbar lustig und er glaubt, dass er einem alles sagt, was man über Menschen wissen muss.
Der Weiße Affe übersetzt den Text mit: „Jedes Jahr der gleiche Scheiß, aber ich gebe nicht auf!“ „Letztes Jahr bin ich voll auf die Fresse geflogen aber dieses Jahr schaffe ich’s, da finde ich die wahre Liebe, den perfekten Job, Freunde, die mich verstehen und das ganz große Glück!“
Der Affe meint, dass Affen optimistisch sein müssen, um weiterhin Affen sein zu können.
Herr Buchholz hat notiert, dass er es hier mit Albert Einstein hält, dass die Definition des Wahnsinns sei, immer wieder das Gleiche zu tun und neue Ergebnisse zu erwarten. Herr Buchholz denkt nämlich, dass Menschen aus seinen Fehlern lernen sollten. Aber Herr Buchholz ist ja auch Lehrer und daher von Beruf seltsam.
Die Zeit zwischen Weihnachten und Semesterferien bezeichnet Herr Buchholz als tote Zeit. Eigentlich wartet er nur noch auf seine Abfahrt in die Ferien und Dinge, die ihm sonst gefallen, empfindet er nun als störend. Der Affe sagt nichts, denn als fantasiebegabtes Tier ist er schon mal vorgefahren. Wahrscheinlich ist Herr Buchholz nur wütend, weil er allein zurückgelassen wurde.
In die Ferien fällt das Frühlingsfest. Und die Stadt ist leer. Die beste Art die Straßen Changshas während des chinesischen Frühlingsfestes zu beschreiben, ist nichts zu schreiben, denn genau das passiert: es passiert nichts.
Gegen Ende des Semesters kann man die Zahnräder des chinesischen Bildungssystems mahlen hören; die Studenten, die zu Beginn ihres Studiums in Tarnfarben durch den militärischen Drill mussten, tragen jetzt Talar und Doktorhut: sie sehen glücklich aus. Sie wirken so optimistisch, wie die Soldaten, die in den ersten Weltkrieg gingen. Das Leben in China bietet auch nach dem Studium keine Sicherheiten, aber wer meint, dass es in Europa besser wäre, hat die Welt nicht verstanden. Trotzdem ist es die perfekte Zeit, um durch einen chinesischen Campus zu gehen. Weiße Affen fangen sich noch mehr Lächeln ein als sonst.
Zur selben Zeit aber kann man in den Straßen viele junge Zombies sehen, die 16-17 Jährigen sehen müde aus. Es ist Gao Kao Zeit. Eigentlich ist die ganze chinesische Schulzeit Gao Kao Zeit, aber im Sommer wird es ernst. Das Gao Kao ist das chinesische Abitur. Wer eine Bestnote bekommt, darf auf eine Elite-Universität, wer eine durchschnittliche Note bekommt, geht auf eine provinzielle Wald und Wiesen Uni, wer durchfällt, wird in die Wüste geschickt. Eltern warnen Kinder schon in der ersten Klasse davor, wie schlimm es wäre, wenn sie am Ende nicht zu den Besten gehörten. Das ist zumindest, was man über das Gao Kao lesen kann. Und auch meine Schüler haben mir ähnliches erzählt. Eine sagte, dass sie jeden Abend geweint habe und danach nicht schlafen konnte. Oft hatte ich mich gewundert, wie meine Schüler das harte Studienprogramm mit einen Lächeln ertragen konnten. Sie sagten mir, verglichen mit dem Gao Kao, sei es leicht gewesen.
Das erste Mal aufmerksam wurde ich auf das chinesische Abitur, als ich relativ nichtsahnend eine Hausaufgabe über das chinesische Bildungssystem schreiben ließ. Einige Schüler schrieben, dass das System reformiert werden müsse, weil sich jedes Jahr Schüler wegen des Druckes umbrächten. Eine Schülerin griff das Thema in unterschiedlichen Aufsätzen immer wieder auf. So das Herr Buchholz vermutete, dass sie jemanden gekannt hatte, die/der sich umgebracht hatte. Herr Buchholz ist immer noch traurig, wenn er daran denkt. Der Weiße Affe, der oft direkter denkt, wurde traurig, als die Schüler eine recht simple Grammatik-Aufgabe lösen sollten. Sie mussten Sätze vervollständigen. Der Beispielsatz war: Glück ist, in der Sonne zu liegen. Viele Schüler schrieben: Glück ist, keine Prüfung zu haben.

Als anderthalb Jahre vergangen waren, war … !
Zu der Zeit, als ich der Stadt überdrüssig wurde, begann ich sie zu vermissen. Ich nostalgiere also für etwas, das vor meinen Füßen liegt. Einerseits langweilen mich meine täglichen Wege in Changsha, anderseits kümmert mich der Gedanke, sie zu verlassen.
Das mag albern klingen, ist aber – wie vieles alberne in meinem Leben – logisch. Denn wenn ich gehe, wird Changsha zu einem weiteren beendeten Kapitel meines Lebens. So schaue ich alte Filme und wundere mich übers Vergehen der Zeit. Herr Buchholz sortiert seine Erinnerungen und träumt von der Zukunft und selbst der Weiße Affe, der gern ein sorgloses Tier wäre, zählt unsere Falten.
Dinge zu vermissen, die noch da sind, scheint ein dummer Trick zu sein. Ich bin kein weiser Affe und eigentlich habe ich bloß gelernt, Abschied zu nehmen. Herr Buchholz meint, dass er reifer geworden sei und gelernt habe, die Abschiede zu genießen. Der Weiße Affe sagt, Herr Buchholz habe seine nächste Midlifecrisis und sollte sich ums Heute kümmern.
Wie auch immer, wenn ich gehe, gehe ich ins nächste China. Denn bisher lebte ich nicht in China: ich lebe auf der Lushan Lu.
Doch die Lushan Lu verändert sich. Ich hatte schon erwartet, dass ich niemals nach Changsha zurückkommen könnte. Weil das Changsha, das ich in ein paar Jahren einmal besuchen werde, eine ganz andere Stadt sein wird, als die die ich kennengelernt habe. Herr Buchholz dachte, dass die alten Straßen und Gassen, die er liebt, sterben würden und der Weiße Affe glaubte, dass dort Hochhäuser wachsen würden, auf die er klettern könnte, um Flugzeuge zu fangen. (Der Weiße Affe hat ein gewaltiges Egoproblem)
Beides war falsch. Die Lushan Lu wird renoviert, sie und die Gassen, die sich zum Berg erstrecken, werden auf alt geschminkt. Am Berg steht eine alte chinesische Universität, nicht ihre Häuser, aber die Institution ist älter als Deutschland und in den chinesischen Reiseführern ist sie weltbekannt, und das soll wohl auch so werden. Um den Berg erstreckt sich ein Labyrinth aus Sträßchen mit alten, hässlich gekachelten Häusern: eigentlich eher Gossen als Gassen. Diese Baracken werden nun schön gemacht, werden weiß getüncht und bekommen chinesische Dachelemente aufs Haupt gesetzt. Und fertig ist die berühmte Attraktion. Wirklich, ich werde das Changsha, in das ich zurückkehre, nicht kennen.
Egal, nichts ist, wie es scheint – in China nicht und anderswo auch nicht.
Ist China kommunistisch, konsumistisch oder bloß Einparteiendiktatur? Herr Buchholz weiß das nicht, doch meint er, dass die meisten, passend zu ihrer Weltanschauung und schneller als sie denken können, eine einfache Antwort fänden. Den meisten käme es nämlich nicht aufs Denken an, sondern darauf, eine Antwort zu haben. Denn wer eine Antwort hat, muss nicht mehr denken. Auch wenn er glaubt, dass er zu den Realisten gehöre, die nur glauben, was sie sehen, gehört er doch eigentlich zu den Konformisten, die nur denken, was sie glauben und so ihre Antwort täglich wiederfinden. Viele Langnasenaffen machen das besonders gut, wenn sie nach China kommen. Ihre Reisekoffer voller Antworten lernen in China nichts über China und predigen stattdessen den Westen, denn dessen Handbuch haben sie auch gelesen.
Der Weiße Affe weiß gar nichts. Er weiß weder wie China noch wie der Westen funktioniert, doch hat er vor langer Zeit beschlossen, niemandem mehr zu glauben, der sagt, dass er es wüsste. Herr Buchholz hat dem Affen erzählt, dass er gelesen habe, dass die kommunistische Partei Chinas wie Gott sei, sie sei immer da, doch sehe man sie nicht. Der weiße Affe hat’s nicht verstanden, fand’s aber ästhetisch.
Herr Buchholz fährt fort, dass gern davon ausgegangen wird, dass China kapitalistisch werde, dies sei aber ein Fall von „ich denke, was ich glaube,“ da der „kommunistischen“ Partei Chinas letztendlich alle Unternehmen gehörten. Alles Wirtschaftliche Chinas sei politisch kontrolliert. Das hat Herr Buchholz gelesen. Den Weißen Affen überrascht das nicht, denn Herr Buchholz liest viel.
Westliche Politiker kritisieren gerne diese Herrschaft des Politischen übers Wirtschaftliche. Vielleicht aus Neid, denn die Wirtschaft steht in den Demokratien über der Politik.
So gibt es östliche Staaten, die freie Marktwirtschaft spielen, aber alle Wirtschaft kontrollieren, und es gibt westliche Staaten, die Demokratie spielen, in denen die gewählten Regierungen aber einer Wirtschaft untergeordnet sind, deren Akteure man höchstens als Arbeitgeber wählen darf. Was soll’s, sagt der Weiße Affe, wenn man weit genug nach Osten geht, kommt man in den Westen.
Herr Buchholz sagt es so: Die Macht in Ost und West ist nicht dort versteckt, wo alle hinsehen. Es ist ein Hütchenspiel, sagt der Weiße Affe, der ein linkes Tier ist.
Damit weiterhin niemand in die richtige Richtung schaut, haben wir hüben wie drüben ein Narrativ.
In China ist das Narrativ kommunistisch. Manche meiner Schüler wollen in die Partei und müssen daher manchmal Propaganda-Verunstaltungen besuchen. Als der Affe sie aber fragte, was Kommunismus sei, konnten sie nicht antworten, Damals musste Herr Buchholz lachen.
Aber auch der Westen hat natürlich sein Narrativ und das heißt Menschenrechte und das ganze Gedöns.
Nicht dass Herr Buchholz oder der Weiße Affe Menschenrechte schlecht fänden, aber sie haben das Gefühl, dass diese Rechte nur für eine bestimmte Sorte Mensch gelten würden: den aufgeklärten Menschen, den Westler. Der hat die Aufklärung gehabt und dabei die Meinungsfreiheit erfunden, deshalb ist seine Meinung die beste aller Meinungen, denn seine Meinung ist frei. Und weil der westliche Mensch die beste aller Meinungen hat, ist er der beste Mensch von allen. Deshalb werden auch für zwölf Tote in Paris Hektoliter an Tinte vergossen, wohingegen das Blutvergießen im Rest der Welt keiner echten Träne wert ist. Die Ideale der Aufklärung sind zwar des Westens Fahne, aber sie sind nur noch Chiffren für die westliche Überlegenheit und bedeuten so wenig wie Kommunismus in China. Ach, wie gut ist es doch, dass wir die Aufklärung hatten, besser wäre es aber, wir klärten uns selbst weiter auf, anstatt andere dafür zu verurteilen, dass sie nicht sind wie wir.
Das chinesische und das westliche Narrativ sind sich nämlich ähnlich. Es ist ein Ablenkungsmanöver, wie ihn jeder Trickser beherrscht: schaut nicht auf mich, schaut dorthin. Beide begnügen sich damit, recht zu haben, womit sie aber recht haben, das verraten sie nicht; wichtig ist nur, recht zu haben, das bessere System zu sein und die Untertanen an die schlechtere Alternative zu erinnern.
Und was machen der Herr und sein Affe jetzt?
Im Westen gibt es Pegida, Putin und Heerscharen von demokratisch gewählten Politkern, die zu doof sind, um zu merken, wie dämlich sie sind. Dort müsste der Weiße Affe Buchholz mitmachen und deshalb verbleibt er auf der Luschan Lu, ist alt und jung und amüsiert sich über seine Beliebtheit und seine eigenen Meckereien.
Der Osten hat für ihn nämlich viele Vorteile. Zum einen versteht er hier selten, wenn Idioten dumme Dinge sagen, weil er zu dumm ist, die Sprache der Idioten zu lernen; und zum anderen ist er froh, dass er hier alles falsch machen darf, da er ja ein Affe von außerhalb ist. In Deutschland ist es mir manchmal schmerzhaft, ein Außenseiter zu sein, weil von mir erwartet wird, kein Außenseiter zu sein. In China aber erwarten alle vom Weißen Affen, alles falsch zu machen und darin bin ich erstaunlich gut. Hier muss ich nach keinen Chiffren tanzen.
Und obwohl Herr Buchholz sich alle Mühe gibt, soviel richtig zu machen, wie er kann, ist sein Affe glücklich.




Was mir gefällt

In China schaut man selten zurück: Jedoch bricht die Narbenliteratur beredt das tiefe Schweigen zur Kulturrevolution und die chinesische Regierung überlegt, wie der Himmel, den sie grau gefärbt haben, wieder blau zu machen sei.
Sich Zeit zu nehmen, sich zu besinnen, ist ein Luxus in China, wo alles nach vorn gerichtet scheint, wo alles Umbruch ist, wo die Scherben des Wandels so selbstverständlich sind wie die Flecken auf der weißen Weste. Seitdem englische Kanonenbote die chinesische Identität in Trümmer schossen, soll’s in China immer nur nach vorn zu alter Größe gehen. So dass es falsch ist, zu sagen, das Land sei im Umbruch, denn China ist dauernder Umbruch. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen schaut man eben doch nach links, rechts und zurück und stellt Fragen. Stellt die Fragen, die zensiert sind. Denn China ist immer ein – mal lautes, mal leises – Trotzdem, Trotz alledem.
Und das gefällt mir. Daher werde ich zurückschauen auf mein erstes Semester in Changsha und schreiben, was mir gefällt und was nicht. Das klingt banal, ist es aber nicht, denn was uns gefällt, ist, was uns zu dem macht, was fremde Augen in uns sehen. Somit Vorhang auf: Hier bin ich, trotz alledem und wegen dem was geschah, bin ich nun hier, bin, wer ich bin.

Was mir gefällt und was mir nicht gefällt:
Ich muss fünf mal die Woche früh aufstehen, das gefällt mir zwar nicht, aber es fällt mir heute leichter als früher, als ich angeblich jünger war – mit anderen Worten: die senile Bettflucht holt uns alle – und das ist gut, aber besser wäre es, ich könnte schlafen, wie es mir gefällt.
Ich frühstücke meist auf dem Weg zur Universität. Wenn ich mir Baozhi für den Weg kaufe – das sind gedämpfte Brötchen, gefüllt mit Fleisch oder Gemüse – mag ich’s, wie der Dampf aus den Brötchen herausbricht, wenn ich sie aufbreche. Herrlich ist es, wenn das Wetter schlecht ist, wenn es regnet und die feuchte Luft einen belästigt. Dann muss man ein Dampfbrötchen kaufen, sich über es beugen und vorsichtig aufbrechen, der von Essensgeruch geschwängerte Dampf, der einem dann ins Gesicht steigt, wirkt erquickender als Kaffee, das Fett, das einem bald übers Kinn rinnt, schmeckt besser als Butter. Auch wegen so einfacher Dinge wie dieser Dampfbrötchen bin ich in China. Schon als ich als Kind an der Hand meiner Mutter durch Asien ging, liebte ich das chinesische Essen. Ich konnte es nie vergessen, jeder, für den ich schon einmal kochte, kann’s bestätigen.
Wenn ich am Morgen mehr Zeit habe, dann gehe ich in eines der proletarischen Nudelsuppenlokale. Das sind meist nur Garagen, in denen in offener Küche gekocht und an wackligen Stühlen gegessen wird. Sie sind meine kleinen warmen Höhlen, wenn’s draußen zu nass wird, wenn zu viele Menschen auf der Straße sind, dann verstecke ich mich vor Regen, Smog und Nebel in meinen Nudelsuppenhöhlen und atme für ein paar Minuten – bis mein Essen kommt – nur den Essensdampf, der im einen großen Topf wohnt, der in der Mitte der Höhle thront wie ein Schrein und keinem Gott, sondern nur den Hungrigen geweiht ist. Dann kommt die Suppe. Sie schmeckt gemessen an ihrem Geruch fast enttäuschend, doch wenn man sich darüber beugt und vorsichtig mit Stäbchen nach Nudeln fischt, dann vergisst man, dass es eigentlich zu früh am Tage ist um zu essen. Das ist meine Dampftherapie gegen das Morgengrauen. Es erinnert mich an Kindheitstage im Himalaja, zwar haben sich seitdem die Zeiten geändert, aber dem Geruch von Regen und Nudeln konnte die Zeit nichts nehmen.

Etwas was mir – wie in Deutschland – nicht gefällt, ist die Angewohnheit der Vielen, beim Gehen ins Handy zu starren. Ich habe das Gefühl, das ist in China noch populärer als in Deutschland. Ständig muss ich also kleinen Chinesen ausweichen, die mittels ihres Telefons die ganze Welt sehen, aber mich – vor ihrer Nase – übersehen.
Das Problem habe ich allerdings auch, wenn die Chinesen nicht ins Handy schauen. Ständig pralle ich fast mit irgendwelchen Fußgängern zusammen. Ich könnte mich jetzt ereifern, weil die kleinen Gelben nicht schauen, wenn sie laufen, wo sie laufen.
Nur wäre das falsch: wenn einem nur Geisterfahrer begegnen, ist man selbst der Geisterfahrer. Ich bin jetzt bald ein halbes Jahr hier und ich habe immer noch nicht verstanden, wie der Chinese läuft, ich kenne die Verkehrsregeln nicht. Ich bin der Exot und der Exot steht ständig im Weg. Eigentlich ist das eher lustig als störend, denn die größeren Chinesen zerschellen an meiner Heldenbrust und die kleineren prallen ab von meinem Gummibauch. Es ist lustig, solange die Sonne scheint, solange es nicht regnet. Denn wenn es regnet, spannen alle Chinesen ihren Regenschirm auf. A-L-L-E! Und es sind viele. Zuerst sieht das fast schön aus. Denn ich bin größer als der Durchschnitt und wo eben noch durchschnittliche Chinesen gingen, wachsen plötzlich viele bunte Pilze. Das gefällt ungefähr 5 Sekunden lang, dann ist’s vorbei. Die nassen Gesichter und die Dornen der Pilze befinden sich ungefähr auf meiner Augenhöhe, das ist beängstigend, wer schon mal von einem Rudel nasser rosa Champions angegriffen wurde, weiß wovon ich spreche. Wenn es beginnt zu regnen, hebe ich meine Arme in die Verteidigungsstellung eines Boxers und fluche. Das hilft. Die meisten Pilze flüchten.

Wenn ich mein Gehalt in Euro rechnete , wäre die Summe unterm Strich zu klein zum Lachen und Weinen, daher rechne ich nur chinesisch, ich lebe in Renminbi, ich lebe in China.
Ich gehe dreimal täglich essen, fahre Taxi, wenn ich faul bin, und wenn nicht, gehe ich ins Gym. Den Jahresbeitrag für dieses zahlte ich in bar. Ein bis zweimal im Monat lasse ich mich massieren. Die Masseusen sind kräftig und blind. Blind sollen sie sein, das ist chinesische Tradition. In China sagt man, dass die blinden Masseusen die besten seien. Und das sind sie. Nach einer Massage habe ich für Wochen keine Rückenschmerzen mehr und ich fühle mich jugendlich elastisch. Allerdings sind sie auch kräftig. Ein Video davon, wie ich massiert werde, wäre sicher ein Youtube-Hit. Zumindest auf den einschlägigen Sadisten-Seiten. Die Masseusen sind kräftig und ich schreie laut vor Schmerzen. Der Titel für den Youtube Film: Die Blinde mit den Eisenfingern und das Weichei. Einmal hatte ich eine sehende Masseuse, sie hatte einen schlaffen Griff und rülpste die ganze Zeit. Ich hatte keine Schmerzen und fühlte mich betrogen. Heute gehe ich meist mit meiner Freundin zur Massage. Sie ist Chinesin und liebt Massagen. Dann liegen wir nebeneinander auf zwei Liegen und halten unsere Hände, während kräftige blinde Frauen zugreifen. Für mich hat es viele Vorteile mit meiner Freundin ins Massagestudio zu gehen. So bekomme ich, was ich will – eine gute Massage – und darf mein Maul halten. Im Gegensatz zur freundesläufigen Meinung über mich, höre ich mich nämlich sehr gern schweigen, dann kann ich nichts Dummes sagen. Während ich also nichts sage, sagt meine Freundin den Masseusen, was ich will und wohin sie wie kräftig greifen sollen. Während ich nichts sage, reden die Masseusen über mich und stellen meiner Freundin – Guo Guo – Fragen.
Wie heißt er – woher kommt er – was macht er hier – warum ist er nach China gekommen?
Sie kümmern sich um mich, als ob ich wichtig wäre und ich muss nichts tun, nicht einmal sprechen. So ungefähr habe ich mir mein Leben schon immer gedacht. Natürlich vergesse ich dabei nicht, dass ich Sprachlehrer bin. Wenn eine Masseuse an die richtige Stelle greift, sage ich: „ARGH“.
„Argh“, sagen dann die Masseusen und lachen.
Wenn sie es richtig gut machen, sage ich: „eueueue“.
„Eueueue“, sagen sie und lachen lauter.
Ich vergesse nie, dass ich Sprachlehrer bin.
Hier lebe ich im Luxus, in Berlin aber wäre mein Geld nicht viel wert. Das ist wohl ein goldener Käfig.

Changsha ist keine schöne Stadt, doch gehe ich gerne gehe durch die Straßen und Gassen, die nur die kennen, die hier wohnen müssen. Denn dort, wo die Stadt gewachsen ist, mag ich sie, wo sie geplant wurde, wo alle hingehen, flüchte ich. Das gewachsene Gassengewirr ist ein hässliches Wunder, die Hochhäuser und Straßenschluchten, der Neondschungel der neuen Boulevards ist ein geplantes Desaster: eine Katastrophe vom Reißbrett. Denn Changsha ist gerade da besonders hässlich, wo alle hingehen, und zeigt Schönheit an den Orten, die niemand findet, da keiner sie sucht.
Egal wo, egal wie alt sie sind, Chinesen treffen sich in ihren Märkten und Parks. Die neuen Märkte liegen eingepfercht in die Säulen der Neustadt. Die Straßen um sie herum liegen unter Hochhäusern und Autobahnbrücken. Am Tag ist es meist dunkel und die Luft schmeckt grau. Es gibt wenige angenehme Gründe hier zu bleiben, meist geht man im Strom der Leiber schnell vorbei. Die Menschen gehen zur Arbeit, zum Vergnügen, aber sie bleiben nicht stehen. Das Leben wird hier zur Funktion, solange die Sonne scheint.
Aber die Nacht, wie anders ist die Nacht: Wenn die Sonne untergeht, erwachen die Lichter, bleiben die Menschen stehen, die Bühne wird zu einer anderen Zeit: die gleichförmige Moderne tritt ab, und China geht auf. Graue Wände erwachen zum neonbunten Bühnenbild. Der graue Drache Verkehr zeigt seine Farben und die Menschen gehen nicht, sie verlieren ihr Ziel im Gewühl, stehen beisammen, manchmal schwatzend, oft essend, aber immer lachend wirken sie frei. Die Anarchie der Straßen Asiens, der brennende Geruch des Essens, das großzügig verschenkte Lächeln junger Frauen zeichnen ein ganz anderes China als es westliche Medien gern an die Wand malen. Abends, wenn die Lichter angehen, setze ich mich an eines der Straßenrestaurants, bestelle mir was immer ich essen oder trinken mag und beobachte: Im Restaurant nebenan hat ein Kunde eine Schlange bestellt, eine lebende, der Kellner wiegt das sich windende Tier und streitet über den Preis während sie versucht zu fliehen, zwecklos ‑ bald wird serviert. Gegenüber sitzt ein Kind zu Tisch, es wurde genug gemästet, es kotzt, niemanden kümmert’s. Ich sehe flanierende Intellektuelle, Hipster auf’m Catwalk und Singles auf der Jagd, die Armen betteln um Geld, die Reichen um Aufmerksamkeit. Dazwischen sitzen die Alten, die nur beobachten. Sie lächeln. Ich beobachte sie, und frage mich: Was mögen sie alles gesehen haben in ihrem langen chinesischen Leben.
Die Abende sind großartig in Changshas Straßen, leider sind sie auch kurz. Kurz nach 11 gehen die meisten nach Hause und wenige in die Clubs und KTV’s der Stadt. Dort blättert schnell die Farbe der Lichter ab, alles erscheint zu viel, zu gesetzt: Spaß aus der Tube.
Die Freude ist Konsum, Konsum ist die einzige Freude. Am Tage wird Zeit zu Geld gemacht und in der Nacht wird aus Geld Leben gemacht – sie versuchen es zumindest. Doch dieser alchemistische Zeitvertreib scheint mir Zeitverschwendung und wenn ich nicht gerade durstig bin, gehe ich nach Hause.
Am schlimmsten fühle ich dies in den Einkaufszentren der Stadt, Einkaufszentren sind eine Seuche, sie töten. Nichts kann Chinesen vom Leben abhalten, das können nur Einkaufszentren. Es ist immer wieder faszinierend für mich, wie vor ihren Toren das Leben tobt, aber innen eine geradezu sakrale Öde herrscht. Das anbiedernde Programm kann diese Leere nicht füllen, die sich hinter vollen Regalen verbirgt. Hier versuchen Menschen von der Stange sich Individualität und etwas Glück zu kaufen. Genauso gut kann man versuchen, Leben zu kaufen.
Einmal suchte ich – ich weiß nicht mehr was – in dem Erdgeschoss eines solchen Einkaufszentrums. Es gab alles zu kaufen: Essen und Kleidung, Telefone und Haushaltswaren. Die Musik verwirrte mich. Ich kenne mich nicht mit chinesischer Musik aus, weder mit traditioneller noch moderner. Aber ich kenne kommunistische Kampflieder und was dort über den Grabbeltischen gespielt wurde, klang genauso. Zwar verstand ich die Texte nicht, doch meinte ich, die Melodie zu erkennen. Man stelle sich vor in Moskau im Kaufhaus Gum würden die alten revolutionären Lieder gespielt. Ist dieser Konsumismus die Vollendung des Kommunismus, ist das die versprochene bessere Welt? Prada, Gucci und 97 Sorten Waschmittel? Früher hatten wir eine Vision heute ein iPhone? Ich weiß nicht, was die Chinesen in ihren Einkaufszentren suchen, aber ich schätze die sauberen Toiletten: Ich gehe da manchmal kacken.
Ganz anders sind die alten Märkte, dort würde ich niemals aufs Klo gehen, den Rest der Zeit verbringe ich allerdings gern dort. Die Leute laufen hier nicht bloß ihren Weg zum Ziel entlang, sondern sie schwatzen ziellos durcheinander. Oft kommt man nicht voran, weil die vor einem gar nicht voran wollen. Einfach stehen bleiben. Nichtstun und genau das: Die Freiheit Nichts zu tun bedeutet manchmal, dass man am Leben ist. Es ist immer laut, es ist die Lautstärke, die entsteht, wenn Menschen kein Blatt vor den Mund nehmen, wenn sie Spaß haben. Leben.
Hier bekomme ich alles, was ich brauche und niemand haben will. Hundefleisch und gefälschte Rolex: gleich Links. Lebende Schlangen und Maßanzüge? Zu deinen Füßen. Nackte Schildkröten und Aschenbecher aus Schildkrötenpanzer: rechts. Rosa Schlafanzüge, Plüschschuhe und plüschige Welpen, Gewürze, Parfüm, Chili, Augenwasser alles da.
Da ist ein Tisch voll Gekröse: Hühnerhaut und Schweinedarm, ähh, Geringeltes und Gekraustes, Fettiges und Vertrocknetes. Ich habe keine Ahnung, was es ist, ich kann nicht widerstehen. für 1,50€ bekomme ich einen Salat aus Gedärm; wer nie eine Bockwurst gegessen hat, werfe den ersten Nierenstein.
Selten lädt Changsha zum Verweilen ein, die Viertel der Stadt sind eingemauert und erinnern eher an ein Mosaik aus Festungen, denn an eine zusammenhängende Stadt.
Auch im wild gebauten und ungeplant gewachsenen Gassengewirr, dass sich in Knoten herum um meine Universität erstreckt, kommt man nicht immer von Gasse zu Gasse. Die einzelnen Sträßchen scheinen Familienangelegenheiten zu sein und strecken sich umeinander herum wie Paralleluniversen. Manche einander nahe Gassen kreuzen sich nie, haben keine Verbindung zueinander, sie verlaufen um ein- unter- und über- einander. Um von einer zur anderen zu gelangen, muss man zurückgehen zur Hauptstraße und einen anderen Eingang finden. Ich weiß es nicht, doch glaube ich, dass diese Gassen wie Dörfer in der Stadt sind. Hierhin geht nur, wer hierher kommt. Die Gassen an meiner Uni schmiegen sich an einen bewaldeten Hügel, am Hang des Hügels zerfasern die Gassen zu kleinen Pfaden zu Bauernhäusern und auch wenn man sich noch mittendrin befindet, erscheint die Stadt hier weit weg. Ich liebe diese Gassen und gehe oft hier spazieren, suche geheime Treppen und versteckte Felder. Ich komme oft hier her, doch wenn ich zu weit gehe, stehe ich am Ende der Gasse, über der letzten Treppe, im letzten Hof, im Wohnzimmer einer chinesischen Familie, die sich – kurz – gestört fühlen mag. Doch meist kann ich die Situation lösen, in China kann man jede Situation mit einem Lächeln lösen, wenn man dann noch ein wenig Chinesisch spricht, gibt es keine Probleme. Zum Abschied mache ich meist noch ein paar Fotos von der Familie, Chinesen lieben es, fotografiert zu werden. Das ist alles eine Frage des Feingefühls.

Ich habe ein wenig Chinesisch Unterricht bekommen. Ich kann schon Nihao (hallo), Hihaoma (Wie geht’s dir) und Baozhi (Maultaschen) sagen. Das ist noch nicht viel, aber ich habe eine gute Lehrerin. Sie erklärt mir nicht nur die Aussprache und gibt mir Vokabular, sondern sie versorgt mich auch mit sinnvollen Hinweisen:
Wenn du „ji“ sagst, bedeutet das Hühnchen, sagst du aber „jiji“ bedeutet das Penis. Das Wort „Nushi“ kann sowohl Dame als auch Prostituierte bedeuten. Nach kurzer Überlegung fügte sie hin zu, wenn du wissen willst, wo die Prostituierten sind, dann sagst du: „zai nali piaochang?“.
Ich mag meinen Unterricht und versuche, so oft wie möglich meinen Wortschatz anzuwenden. Allerdings habe ich das Gefühl, dass es in den Höfen hinter den Gassen immer leerer wirkt. Das mag am Wetter liegen, kann aber auch die Schuld des irren Ausländer sein, der die Einwohner zu Hause terrorisiert, fotografiert und lachend schreit: „Hallo! Wie geht’s? Maultaschen? Wo sind die Prostituierten? Penis?“
Manche Leute haben einfach kein Feingefühl.

Am wohlsten fühle ich mich aber eigentlich in den Parks. Hier kann ich Chinesen beobachten, ohne sie zu Hause zu erschrecken. In die Parks kommen alle Chinesen, um alles mögliche zu tun, hier spielen sie Mahjong und Tennis, rauchen und saufen, fahren Boot und laufen. Hier tanzen und singen sie mit einer kindlichen Unbefangenheit: „Es ist egal, ob man gut kann, was man macht, wichtig ist nur, dass man etwas macht“. Wenn die Sonne scheint, gehe ich in einen Park und mache, was ich gut kann: beobachten, dummes Zeug denken und von nichts ‘ne Ahnung haben. Manchmal muss ich aber auch tun, was ich nicht kann: Z.B. Singen und Tischtennis spielen. Die Chinesen freuen sich sehr, wenn man mitmacht und fordern einen oft auf, mitzumachen. Zwar lachen sie, wenn man’s nicht gut kann, aber sie lachen auch, wenn sie’s selbst nicht können. Diese Fähigkeit, sich zu vergnügen ohne zu bezahlen, ist etwas, was vielen in Europa abhanden kommt, aber es stirbt auch hier: Wer’s sich leisten kann, geht in die Einkaufszentren oder ins KTV. Das Leben im Park wird langsam zur Tradition der Älteren, junge Leute kommen selten.
Überhaupt mag ich oft das alte, das traditionelle China, zwar gefällt mir der Geruch des Umbruchs, die Dynamik des Landes, aber die Gesichter des modernen Chinas gefallen mir nicht. Gefallen ist ein handelndes Verb, es setzt den, dem etwas gefällt in den Dativ. Es verändert den Handelnden. Macht mich China, wenn mir das Alte gefällt, zu einem Konservativen?
Vielleicht. Aber auch wenn mir viel altes gefällt, gefallen mir besonders die jungen Menschen Chinas. Sie sind Kinder der Tradition und gehen mit großen Augen ins Morgen. Selten habe ich so viele neugierige, wissbegierige, freundliche Menschen kennengelernt. Sie greifen nach allem Neuen, tragischer Weise bekommen sie dabei oft auch McDonalds und Starbucks zu fassen.
McDonalds, Starbucks oder KFC, das sind in Changsha die Treffpunkte zwischen Ost und West. Es funktioniert blendend, junge Chinesen kommen, wenn sie’s sich leisten können, weil’s anders ist als zuhause und die Westler kommen, weil sie’s sich leisten können und weil’s ein wenig ist wie zuhause. Nu, ich komme auch, ich komme wegen des Kaffees, der funktionierenden Heizung und der sauberen Toiletten. Meistens komme ich, um hier die Texte meiner Studenten zu korrigieren.
Wenn’s nicht so kalt ist, dass ich wegen der Heizung komme, dann sitze ich auf der Terrasse, so kann ich etwas über dem allgegenwärtigen Lärm sein und arbeiten. Einmal saß ich dort, als sich ein junger Chinese an meinen Tisch setzte. Er kam, starrte und schmatzte. Es gefiel mir nicht. Er starrte mich an, aß seinen Burger und schmatze mit offenen Mund. Viele Chinesen beobachten mich, meist stört es mich nicht. Fast alle Chinesen schmatzen, das gehört hier zum guten Ton, es stört mich nicht. Viele Dinge stören mich nicht, bis ich müde bin, dann stören sie mich. Wenn ich müde bin, finde ich, dass die Welt sich mehr Mühe geben sollte. Ich habe dann wenig Gnade.
Entnervt hob ich den Blick von meinen Korrekturen und starrte zurück. Das beeindruckte ihn nicht. Er starrte mich an, wie man eine Fernsehsendung ansieht, der man nur eine Chance gibt, weil man zu faul ist, die Fernbedienung zu suchen. In seinem Blick lag kein Interesse, aber auch als ich ihn erwiderte, wandte er ihn nicht ab. Er saugte abwechselnd an seiner Cola und seinen Pommes und verbiss sich zwischenzeitlich haiartig in seinen Burger: alles ohne den Blick abzuwenden. Ein schmatzender, starrender Chinese: Ich hasse Klischees. Unfähig mich in seinem Fokus zu konzentrieren, legte ich meine Korrekturen zur Seite und suchte etwas im Umfeld, das mein Interesse einfangen und ablenken könnte.
Am Nebentisch sprach ein Franzose laut auf seine drei chinesischen Freundinnen ein. Er erklärte ihnen die Welt.
Spanier? Spanier sind faul, aber sie haben Leidenschaft, sagte er. Russen kann man nicht trauen. Deutsche sind langweilig. Kein Humor, aber wenn man sie zu Freunden hat, dann …, sagte er.
Super, noch mehr Klischees. Ich hasse alle Klischees und Stereotypen. Sie sind eine Entschuldigung dafür, keine eigene Meinung zu haben.
Welche Sprache ist schön? Französisch! Wo leben die schönsten Frauen? Russland! Was machen die Deutschen? Sie arbeiten! Wer dreht die lustigsten Filme? Die Engländer! Wer schmatzt beim Essen? Die Chinesen! Hurra, wir haben unseren Verstand gleichgeschaltet.
Klischees mögen in der Ethnologie praktisch sein, aber ich hasse sie, ich hasse Wiederholungen. Außerdem bin ich in Bezug auf Klischees sehr ambitioniert, ich schaffe neue Stereotypen.
Und ich verpflanze diese neuen Klischees in die Hirne meiner Schüler. Sie – meine Schüler – sind, wie alle Schüler, gern faul. Jede Woche fragen sie mich, ob wir einen Film sehen können. Natürlich einen deutschen. Ich kenne gar nicht so viele deutsche Filme. Oft suche ich also einfach im Internet nach deutschen Filmen, lese die Wikipedia-Zusammenfassung und werf’s der Klasse zum Fraß vor. Ich habe schon „Knallhart“ mit ihnen geschaut (Neukölner Gang-Klischees) und habe auch einen Film namens „Drei“ so gefunden. Unser Thema war zuvor Familie in Deutschland. Das Lehrbuchmaterial war doch etwas sehr Junge Union Textbuch. Zur Freude von Lizzie Lee habe ich noch etwas von Regenbogenfamilien erzählt und in „Drei“ soll’s um eine – am Ende glückliche – Dreierbeziehung gehen.
Als ich den Film einschaltete, wusste ich nicht, was auf mich zukam. Im Vorspann sieht man eine erigierten Penis und einen Ausschnitt aus einem Porno. Ich hätte mich gern unter meinem Tisch versteckt, ich fürchtete die Reaktion der jungfräulichen Studenten und guten Mädchen, ich fürchtete um meinen Job.
Im Film geht es um ein deutsches Paar, das seit den Studienzeiten zusammen ist und langsam in die Jahre kommt, sie kämpfen mit der Langeweile und Hodenkrebs und finden beide Antworten bei demselben Mann (Adam), mit dem sie beide eine Affäre beginnen. Meistens ist der Film furchtbar intellektualisiert (→ Klischee Deutscher Film). Ich glaube nicht, dass meine Studenten viel verstanden haben von dem, was so geredet wurde. Wenn aber nicht geredet wurde, dann wurde viel gefickt. Frau und Mann und Mann und Mann. Ich fürchtete um meinen Job, ich sah die Schlagzeile: perverser Deutschlehrer verdirbt die chinesische Jugend. Ich versuchte, mich auf meinem Stuhl zu verstecken. Meine Studenten waren begeistert: Sie fingen an, die Protagonisten anzufeuern. Am Ende des Films hat das alte Paar herausgefunden, dass sie beide denselben Adam haben. Zunächst trennen sie sich, dann treffen sie sich in einer Bar.
Die Frau sagt: Ich habe dich vermisst.
Der Mann antwortet: Ich dich auch.

Schweigen.
Die Frau sagt: Aber ich vermisse auch Adam.
Schweigen.
Meine Schüler riefen, feuern an: Ich auch! Ich auch!

Der Mann sagt: Ich auch.
Die Klasse ist fast explodiert, so glücklich waren meine Schüler. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wären sich in die Arme gefallen und hätten getanzt. So langsam realisierte ich, dass ich meinen Job vielleicht doch behalten würde.
Zum Ende sieht man, wie die Drei zusammen in ihr „Ehebett“ gehen.
Ich frage die Klasse, ist das auch eine Familie? Lizzie Lee schrie lauthals: JA!
Ein paar Wochen später frage ich meine Schüler im Unterricht, wovor sie Angst hätten. Der erste, den ich frage, sagte, er habe Angst davor, nach Deutschland zu gehen.
Warum?
Die Deutschen würden sich immer prügeln, sagte er; das war der Einfluss des Films „Knallhart“.
Ich frage den nächsten, er habe Angst davor nach Deutschland zu gehen, sagte er.
Äh, warum?
In Deutschland seien alle homosexuell. Er habe Angst auch schwul werden zu müssen, wenn er in Deutschland sei. Das war der Film „Drei“

Ich liebe meine Schüler, aber manchmal frage ich mich, was sie schlimmes getan haben, dass sie mich als Lehrer bekamen, der ihnen dauernd Angst macht. Sie sind so interessiert an Deutschland und der deutschen Sprache und alles, was ich tue, ist, ihnen neue Vorurteile zu verpassen
Na ja, Gewaltig und Schwul sind doch bessere Stereotypen als Faschistisch und Humorlos, oder?
Ich arbeite weiter dran, versprochen.

Ich liebe meine Schüler. Zum einen sind sie süß. Oft kommen sie morgens ganz verschlafen in die Klasse, in ihren Armen tragen sie ein großes Kuschelkissen. Auch wenn ich eher Einzelgänger bin und sehr gern meine Ruhe habe, muss ich doch ihren entspannten Kollektivismus bewundern. In der Mittagspause bleiben die meisten zusammen im Klassenzimmer, schauen einen Film oder schlafen. Den Anblick von 30 auf ihren Tischen schlafenden Studenten, vergisst man nicht so schnell. Ich möchte sie umgehend adoptieren.
Aber auch ich lerne von ihnen. Z.B. lerne ich schöne Formulierungen aus ihren Aufsätzen. Wang Shu schrieb einmal: „Das war so langweilig, dass ich begann die Realität zu schwänzen.“ Lee Rungi kam eines morgens in die Klasse und sah ganz traurig aus. Auf meine Frage, was los sei, sagte sie: „Heute bin ich sehr tragisch.“ Sofort beschloss ich nie wieder traurig, sondern nur noch tragisch zu sein. Tragisch sein, heißt seine Trauer zu inszenieren, zu genießen.
Aber ich lerne auch viel übers Land. So lerne ich etwas über chinesische Sprichworte. Einen grünen Hut zu bekommen, ist in China etwa das gleiche, wie wenn man bei uns gehörnt wird.
Das chinesische Stilempfinden sagt, dass eine Kleiderkombination in rot und grün schlimmer als Scheiße sei. (Natürlich kam nach dem Unterricht gleich Lizzie Lee zu mir und erklärte, dass man, wenn das Individuum groß genug ist, alles tragen kann.)
Ein anderes mal sollten meine Schüler einen Vortrag darüber halten, was in China für Ausländer vielleicht sonderbar sei. Eine Schülerin sagte: „Sonderbar an China sind die vielen verschiedenen Religionen, z.B. der Buddhismus und die Kommunistische Partei.
Machthaber Chinas zieht euch warm an, ihr seid enttarnt!

Ich kam nach China aus Neugierde und Langweile. Ich fand diese begeisternden Studenten, deren Lehrer ich sein darf. Es macht viel Spaß in einem Land, das so dynamisch aus der Vergangenheit in die Zukunft stürmt, wie China es gerade macht, mit so neugierigen Studenten zusammenzuarbeiten. Dass ich meine Studenten so gerne mag, liegt nicht nur daran, dass manche von ihnen kleine Luftsprünge machen, winken und rufen: „Herr Buchholz“, wenn sie mich auf der Straße sehen.* Ihre Neugierde und ihr Optimismus inspiriert mich. Das Leben in China ist härter als in Deutschland, doch die Menschen sind noch nicht so verbraucht und abgeklärt. Das gefällt mir am besten.

* Ich sollte die Sprünge filmen und verkaufen, es wäre das ideale Heilmittel für Depressionen. Immer wenn ich schlecht gelaunt bin und im Geiste einen Beschwerdebrief ans Leben schreibe, sieht mich eine junge Chinesin, hüpft, winkt und ruft Herr Buchholz! Dabei ist es unmöglich, seine schlechte Laune zu behalten: Es ist schwer, in China deutsch zu bleiben (Na bitte noch ein Klischee.)




Vom Feiern.

Ausgehen

Leben: Ausgehen, Party machen, Saufen, einen drauf machen: Spaß haben.

Der Spaß ist nicht einfach. Nicht für mich, nicht mehr, nicht dann, wenn ich Spaß haben muss oder auf Partys Spaß haben soll. Natürlich kann die Party Spaß machen, aber manchmal sind Partys für mich, als wäre ich gezwungen, eines meiner alten Lieblingslieder zu hören, pausenlos ‑ bis mir die Noten wie sanfte Skalpelle die Haut abziehen. Das war früher anders.
Es ging mir aber schon oft so, dass ich den Spaß der anderen nicht teilen konnte. Dann fühlte ich mich in der Menge allein und bestellte ein Bier. Woran liegt’s? Im Zweifel an mir.

Wobei mein Spaß nicht das interessanteste an Changshas Nachtleben ist, denn Changsha ist keine langweilige Stadt. Hier also mehr von meinem neuen Leben, meiner neuen Stadt und meinem alten Selbst.
Aber seht selbst, wenn ihr hinsehen wollt.

Einmal, in der ersten Unterrichtswoche, fragte mich eine Studentin, ob ich einmal mit ihnen ausgehen könnte. Da ich den Plural gehört hatte, sagte ich zu. Bald wurde es mir unheimlich, aber am selben Abend schon klingelte das Telefon und die Erwähnte wollte ihren Erwählten – mich (warum auch immer) – treffen. Ich traf sie am Fahrstuhl des Wohnheims. Sie war stark geschminkt, für chinesische Verhältnisse russisch geschminkt.
Ihr Plural bezog sich auf eine Freundin, die neben ihr aussah wie eine Anstandsdame. Die Erwähnte stellte sich als Anna-Sophie vor, die Anstandsdame wollte, dass ich ihr einen europäischen Name gebe.
Alle Chinesen nehmen sich auch europäische Namen, erklärte sie. Ich nannte sie einige Male Rosa und dann nie wieder, weil ich zu spät begann nachzudenken. Erst dachte ich, dass es nicht gerade für das Selbstbewusstsein Chinas spricht, wenn alle Chinesen einen europäischen Namen annehmen. Später erfuhr ich, dass sich die Chinesen die Namen nicht nehmen, sondern dass Westler sie ihnen geben, weil sie nicht in der Lage sind, die chinesischen Namen auszusprechen. Ich kenne in meinem Wohnheim einen US-Amerikaner, der besonders fleißig dabei ist, Namen zu vergeben. Besonders gern benennt er Frauen, und meist benennt er sie nach Pornostars.

Ich habe euch Namen gegeben, ihr seid mein, ich werde euch alle erkennen!

Ich habe aufgehört, Chinesen mit westlichen Namen zu nennen. Man stelle sich vor, China wächst weiter, irgendwann wächst es dem Westen über den Kopf. Dann kommen junge Chinesen nach Deutschland und sagen:
„Kalle? Das kann ich nicht aussprechen, ich werde dich Bái Hóu nennen, dass ist chinesisch und bedeutet weißer Affe, und deine Freundin nenne ich Jiaozhi Mugou, das heißt geiles Luder!“

Daran, wer wen benennt, daran, wer wen fickt, kann man eine Landschaft der Macht erkennen.
Es ist wie so oft, du ziehst an einem Faden und die ganze Welt schlägt dir ins Gesicht, all das gute und auch all der Scheiß, mitten in die Fresse rein. Zuerst fühlt man sich dreckig, aber beachten sollte man, was man bekommen hat, denn es ist unser Leben. Wenn du also glücklich bist, weil du im fremden Land der Macho bist, dann ist dieses Glück verlogen, denn du stehst stolz wie ein Gockel auf einem Misthaufen und krähst. Deine gute Aussicht verdankst du dem Berg aus Scheiße, auf dem du stehst.

Von aller Analyse abgesehen ‑ bin ich hier in China und möchte auch in China sein. Wenn ich alle und alles so nenne, wie ich es möchte, wenn ich alles bei europäischen Namen nenne und danach zu McDonalds gehe, dann hätte ich gleich zu Hause bleiben können oder ich wäre nie nach China gekommen.
Aber nun zurück zu Anna und Rosa, die ich nicht mehr so nenne. Wir gingen zwar nicht zu McDonalds, aber sie brachten mich in eine westliche Bar, in ein Helen’s. Das ist eine Kette von Bars in China, die sich auf Backpacker und internationale Studenten spezialisiert hat. Die Einrichtung ist Holz, das Bier ist billig, es gibt Burger und Pizza. Jede chinesische Universitätsstadt hat ein Helen’s, Changsha hat zwei. Hier können sich Europäer und USanier zu Hause fühlen und sich darüber beschweren, dass es in China zu wenig Bars gibt.
Zumindest wurde ich von Chinesen hierher gebracht. Nun gut, meine beiden Studentinnen sind nicht allein. Alle Kellner sind auch chinesisch. Westliche Männer, chinesische Frauen, chinesische Angestellte: Landschaften der Macht.
In diesem Helen’s gibt es meist mehr Angestellte als Gäste. Viele Angestellte gibt es überall in China. Der eine Deutsche wundert sich oft darüber, dass es so viele sind. „Das kann sich doch nicht rechnen“, sagt er. Nun, wenn es eines in China gibt, dann Chinesen, viele davon.
Die Chinesinnen, die mich hierher brachten, sitzen mir gegenüber, benehmen sich und sehen aus wie Kinder.
Wir unterhalten uns.
„Das ist erst das zweite Mal, dass ich in einer Bar bin“
„Aha“
„Ich trinke sonst nie Alkohol“
„Ach so“
„Ich bin ein gutes Mädchen.“
„…?“
„Darf ich Sie Kalle nennen?“
„Hier schon, im Unterricht Herr Buchholz.“
„Dann möchte ich, dass du mich im Unterricht Frau Anna nennst.“

Touché

Sie haben sich Cocktails bestellt, zwei Kinder trinken Cocktails und ein Lehrer schaut zu. Ich komme in arge Rollenkonflikte. Da Happy Hour ist, im Helen’s ist immer Happy Hour, haben sie jeder gleich zwei Cocktails bekommen. Sie erklären mir, dass sie sonst nicht trinken, probieren, verziehen das Gesicht und trinken weiter. Zwischen den Schlücken und manchen Fragen an mich beschweren sie sich über den Alkohol in ihren Getränken. Nach einer Stunde schläft ein gutes Mädchen ein. Als ich schon zu hoffen beginne, dass ich den Abend unfallfrei beenden kann, höre ich einen Schrei.
„Eeeeyyyy Leehhreeerr“.
Ein junger Mann stürmt auf mich zu. Meine Begleiterin sagt ihm, dass er verschwinden soll, er schlägt mir auf den Arsch.
„Leehhreer, Ich dachte, du seeeisst eiiin guuter Maaann.“
Er ist betrunken und kommt mir bekannt vor, vielleicht kommen mir aber auch bloß alle Betrunkenen bekannt vor.
„Duuu biiist meiiin Lehhhreeer uuunnnd geeehhhhst miit deeeiiineen Schüüüleern auus!“
„Patsch, patsch, patsch“, schlägt er mir auf den Arsch.
Nun, so gesehen habe ich es verdient, dass er mir den Arsch versohlt, aber seine Eifersucht ist unbegründet. Frauen müssen nicht mein fortgeschrittenes Alter erreicht haben, damit ich sie küssen will, diese beiden wecken aber eher den Wunsch in mir, ihnen ein Glas heißer Milch mit Honig zu geben und eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Der junge betrunkene Mann nennt sich übrigens Obstgarten, er hat seinen chinesischen Namen ins Deutsche übersetzt. Er sieht gut aus, wirkt verspannt und ist im Wohnheim und in der Klasse Mobbing-Opfer Nummer 1. Immer wenn den anderen langweilig ist, ärgern sie ihn, dafür teilt er auch ausgiebig aus.
Heute hat er mir einen Gefallen getan, denn nach seinem Auftritt ist meinen Kindern die Lust an der wilden Seite vergangen: Sie wollen heim.

Später war ich mit dem Einen und dem Anderen und anderen Wohnheimbewohner noch öfters im Helen’s, bis es dann schloss. Die Stadt ist wohl doch zu klein für zwei Helen’s.

Natürlich hat mich das nicht vom Ausgehen abgehalten. Dabei zeigten sich einige Konstanten: Freie Getränke – gute / böse Mädchen – Sie sind überall.
Besonders oft ging ich mit den beiden Deutschen aus meinem Wohnheim aus. Ich werde sie nicht weiterhin den Einen und den Anderen nennen, das ist mir zu blöd, da ich aber fairerweise ihre Namen nicht nennen will, nenne ich den Einen Max Hardcore – weil er ein Softie ist – und den Anderen Barrett Long – weil er ständig von seinem Schwanz spricht. Google sagt, das sind Pornostars: Gerechtigkeit muss irgendwo beginnen.
Wir waren in einer Bar, der Hawaii Bar.
Zuerst wartete ich mit Max Hardcore auf Barrett Long, der mit seinem chinesischen Date kam.
„Die kommt mir bekannt vor“, dachte ich.
Sie sagte: „Hallo Herr Buchholz“.
„Ach so.“
Auch wenn es sich merkwürdig anfühlt „Herr Buchholz“ genannt zu werden, ist es doch sehr praktisch, denn so erkenne ich meine Schüler, sobald sie mich ansprechen.
In der Hawaii Bar fragte der Kellner mich, was ich trinken will, ich bestellte ein Bier. Er ging fort, ohne Max Hardcore oder Barrett Long auch nur eines Blickes zu würdigen, was ihnen nicht gefiel.
Dann brachte er Bier: ungefähr 20 Flaschen. Meine Bestellung galt für alle. Meine natürliche Autorität!
Meine Autorität ist mein Alter. In China zählt Erfahrung noch, hier hat das Alter noch Autorität. Neben Max und Barret sehe ich so alt aus, dass die Chinesen denken, sie müssten sich nach mir richten. Es war ein intelligenter Zug von mir, mit 38 in ein Land zu gehen, in dem Alter noch Autorität heißt. Schach und Matt.

Ungewöhnlich war, dass wir selbst zahlen mussten, sonst wird man in Changsha oft eingeladen. Nicht ungewöhnlich ist dagegen, dass alte Säcke wie ich von jungen Frauen, wie der in den folgenden Zeilen, Telefonnummern angeboten bekommen. Das verkürzte Gespräch dazu liest sich ungefähr so:

Frau: „Hi du bist sehr groß/schön.
Ich: „(…)“*
„Ich bin ein gutes Mädchen“
„(…!)“
„Sollen wir uns mal treffen / kann ich deine Telefonnummer haben?“
„(…)“

* ich habe festgestellt, dass es eigentlich egal ist, was ich sage.

Das Problem ist, dass man viele Telefonnummern bekommt und nach kurzer Zeit nicht mehr weiß, welche Nummer zu wem gehört. Das liegt vor allem an den chinesischen Namen, die sich für mich nicht nur chinesisch sondern auch transsexuell anhören. Anhand des Namens kann ich nicht entscheiden, ob’s ein Mann oder eine Frau ist.
Also schreibe ich dann immer dazu, wer’s war, z. B.:

Li Ran
Telefonnummer: xxxx xxxxx xxxxx
Süß, klein, Brille, Informatikstudentin – gutes Mädchen

Dass sie gut seien, gute Mädchen seien, das erzählen – nach Max Hardcore und Barrett Long – hier alle Frauen. Wir fragten uns warum. Meine schnelle These war, dass dies Werbung sei. Gutes Mädchen heißt soviel wie moralisch integer: Trinkt keinen Alkohol, solide, Jungfrau, kann man heiraten: Werbung. Das erzählen die Frauen hier, so wie deutsche Männer einem ungefragt erzählen, wie oft sie schon Sex hatten: Werbung.

Natürlich war ich auch manchmal in Clubs. Besonders Max Hardcore geht gern in Clubs. Im September brachte er mich in meinen ersten chinesischen Club und erklärte mir auch, wie diese funktionieren.
Er ging zielstrebig auf noch lauteren Lärm als üblich zu. Der Lärm war der Club. Ich floh nach wenigen Sekunden wieder. Das erste, was mir auffiel, war: Es ist so laut, dass einem die Gedanken verklumpen. Ein Gefängnis aus Lautstärke. Das zweite: Es gibt kaum eine Tanzfläche. Es ist so laut, dass man nicht mal denken kann, aber es gibt keine Tanzfläche. Überall Tische. Alle Tische voll besetzt. Kein Platz zum Tanzen, zu laut zum Sprechen.
Nach meiner Flucht fing Max mich schnell wieder ein. Er wollte zurück.
„Die Chinesen sind schüchtern, sie wollen sich nicht unterhalten“, erklärte er. „In den Clubs, schaut man sich an, gibt sich nur Getränke aus und wenn die Frau mit dir tanzt, kannst du sie mit nach Hause nehmen.“
„Aha.“
Wir gingen zurück, es war immer noch laut. Schnell war der Besitzer des Clubs bei uns, er trug einen Irokesen. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen, ich weiß nur noch, dass er manchmal laut Changsha brüllte. Er gab uns eine Karaffe mit Eistee und Whiskey. Zahlen mussten wir nichts.
Max Hardcore bugsierte mich zu einer Tischrunde von Chinesen. Da wir die einzigen Ausländer im Club waren, wurden wir begeistert begrüßt. Sie gaben uns mehr Whiskey-Eistee und eingelegte Hühnerfüße inklusive Fußnägel. Die Füße waren lecker, der Whiskey schmeckte nach Füßen.
Bald schon fand ich mich von 18jährigen Chinesinnen umzingelt, die alle mit mir trinken wollten. Alle wollten sie Whiskey-Eistee mit mir trinken, immer musste ich auf Ex trinken. Dass man als 38jähriger so vehement von jungen Frauen gejagt wird, ist ganz nett, nur kamen sie alle mit dem verdammten Whiskey-Eistee.
Wenn ich mal nach draußen ging, wo man reden konnte, führte ich sehr interessante Gespräche.
„Hi du bist sehr groß/schön.
„(…)“*
„Ich bin ein gutes Mädchen“
„(…)“
„Sollen wir uns mal treffen/kann ich deine Telefonnummer haben?“
„(…)“

Wang Fei
Telefonnummer: xxxx xxxxx xxxxx
aufdringlich

Wenn ich zurück in den Club ging, war ich sofort wieder umzingelt. Ich hatte auch nicht mehr das Gefühl, Getränke zu bekommen, sondern fühlte mich eher wie eine Pflanze, die gegossen wird, ein mit Whiskey begossener Pudel, die Hose klebte mir an den Beinen. Ich weiß noch, dass ich zwischenzeitlich neben die Tanzfläche kotzte und später ein paar keusche Küsse austauschte. Mittlerweile hatte zwar das Kleinhirn das Steuer übernommen, aber ich ging trotzdem allein nach Hause. Ich muss zugeben, der Abend hatte auf eine seltsame Art Spaß gemacht. Ob ich das wiederholen muss, weiß ich nicht. Ich fühlte mich gut, aber wie ein Sextourist. Manchmal wünschte ich, ich könnte meine Moral ausschalten, wenigstens zeitweise.
Zwei Tage später war ich im nächsten Club. Es war sofort etwas langweiliger, obwohl eigentlich wieder alles da war: Whiskey-Eistee, Mädchen. Die Bühnenshow war bunt und sah sehr queer aus. Besonders freute mich, dass hinter den burlesken Animationstänzern abwechselnd eine chinesische Fahne oder Bilder vom Langen Marsch projiziert wurden: Maos Erben sind angekommen, wo auch immer sie sind.
Ich lernte ein Mädchen kennen, die behauptete nicht gut, sondern böse zu sein und zum Beweis mit mir Händchen hielt.

Natürlich führte ich auch Gespräche mit guten Mädchen:
„Hi du bist sehr groß/schön.
„(…)“*
„Ich bin ein gutes Mädchen“
„(???)“
„Sollen wir uns mal treffen/kann ich deine Telefonnummer haben?“
„(…)“

Wu Lu
Telefonnummer: xxxx xxxxx xxxxx
männlich

Ein anderes Mal hatten meine Wohnheimbewohner einen Club angemietet, die Party dort war eigentlich wie im Wohnheim (→ Tischtennisbälle).
Es ist erstaunlich wie betrunken man von Tischtennisbällen werden kann. Als mein Kleinhirn die Kontrolle übernahm, nahm es mir vor, mit dem nächsten guten Mädchen nach Hause zu gehen. Und da kam auch schon eine …
„Hallo Herr Buchholz“
„Verdammt“
„Ich bin ein gutes Mädchen“
„(…)“

Ich brauchte nur Sekunden, um meine Absichten und meinen Gesichtsausdruck neu zu programmieren und mein Kleinhirn auf den Rücksitz zu verbannen.

Lo Bo
Telefonnummer: xxxx xxxxx xxxxx
Schülerin!

Der Rest des Abends versinkt etwas im Nebel, ich weiß aber noch, dass ich mit Barrett Long in einer Karaoke Bar endete – hier KTV – und dass wir gemeinsam versuchten, mit Eminems Lyrikschwall mitzuhalten. Es ist uns misslungen. Kapitän Blaubär würde sagen, wer geschafft hätte, mir zuzuhören, der hätte die Chance gehabt, alles übers Scheitern zu lernen, was man wissen muss.

Das klingt alles sehr lustig, letztendlich strengten mich die Partys aber an und damit meine ich nicht nur den Morgen danach.
Ich war selten entspannt dabei, was zur Folge hatte, dass ich oft eher am Rand stand.
Seinen Höhepunkt erreichte dies leider für mich auf Barretts Longs Geburtstagsparty. Wir waren in einer Bar, wie man sie wahrscheinlich in jeder Stadt Asiens mindestens einmal finden kann. Geleitet wird sie von zwei Westlern die in die Stadt eingeheiratet haben und nun Alkohol und Sandwiches an europäische und amerikanische Gastarbeiter verkaufen. Die Bar ist für Changshas Verhältnisse gut, d.h. es ist drinnen leiser als draußen, so dass man nicht nur sein eigenes Wort, sondern auch das seines Gesprächspartners hören kann. An diesem Abend aber wollte ich eigentlich nicht ausgehen, da ich am nächsten Morgen viel Arbeit hatte und früh aufstehen musste.
Alle hatten Spaß: tanzten, lachten und machten eine Geburtstagstortenschlacht. Ich stand am Rande, schnipste mir etwas Zuckerguss vom Hemd und fühlte mich furchtbar fehl in der Bar. Ich fühlte mich wie auf meiner eigenen Beerdigung: Ich sollte nicht hier sein und fiel am meisten durch meine Abwesenheit auf. Für jemanden wie mich, der in seiner Schulzeit ein Außenseiter war, ist das ein besonders schlimmes Gefühl, es ist wie der Rückfall in härteste Zeiten. Als alle richtig betrunken waren, entschuldigte ich mich und ging. Als ich aus der Bar trat, stolperte ich, fiel so hart, dass meine Hose riss und mein Knie aufplatzte. Ich humpelte nach Hause und stürzte ein paar Meter vor der Wohnheim-Tür noch einmal – wieder aufs selbe Knie. Der nächste Tag war die Hölle: Ich hatte einen großen Kater und humpelte bei jedem Schritt auf drei verschiedene Weisen (Kaputtes Knie, Fuß verknackst und Muskelkater).
Das war vor 1½ Wochen. Letztes Wochenende war ich wieder feiern und heute kann ich wieder gerade laufen.
Letzte Woche war ich noch einmal mit Barrett Long aus, wir waren in einer Bar, einem Club, einem KTV und sind zum Morgengrauen mit einem Schotten und zwei Russinnen auf einen Berg gestiegen. Zum Ende standen wir auf dem Gipfel, sahen uns an und fragten uns: wie hat es soweit kommen können? Denn das fragen sich alle, die die Nacht durchgemacht haben. Dann hechelten wir bergab den Russinnen hinterher.
Es hat viel Spaß gemacht. Am Beginn des Abends hatte ich nämlich verstanden, warum ich mich so oft unwohl gefühlt hatte. Es lag weder an den Anderen, noch an der Stadt, sondern wirklich an mir. Meine Erfahrung damit, neu zu sein und in der Fremde zu leben, hat zwar vieles überspielt, trotzdem aber machten mich die Anforderungen meiner Arbeit und meines Neuanfanges zu Beginn nervös, so dass ich mich nicht entspannen und es nicht genießen konnte, nichts zu machen, zu feiern.
Nun, da ich weiß, dass es hier gut läuft, bin ich entspannt genug, ab und zu die Nacht zu genießen, oft werde ich es trotzdem nicht tun, denn nichts ist öder als eine routinierte Party.




Regen, Liebe und ein altes Kind

Ich gehe spazieren, ich will zur Yuelu-Akademie. Das ist die zweitälteste Universität des Landes, sie ist über 1000 Jahre alt. Von außen habe ich das Gelände schon gesehen, ich erwarte nicht viel und liege damit, wie meistens, falsch. Ich habe in der Akademie für eine Sekunde das gefunden, was wir angeblich alle suchen. Aber dazu später.
Der Tag, an dem ich zur Akademie ging, war der erste Abend seit Tagen, an dem ich das Haus verließ. Ich war krank und hütete des Bett. Am Beginn meines Spazierganges fragte ich mich, was ich hier eigentlich mache. Ich glaubte, meine Krankheit sei Folge dessen gewesen, dass ich mich überanstrengt hatte. Meine Arbeit und meine Hobbys hatten mir keine Luft gelassen.
Ich gehe spazieren. Ich möchte nicht an der Hauptstraße entlang zur Yuelu-Akademie, also nehme ich die erste Gasse links. Was ich an Changsha mag, ist, dass Gassen hier Gassen sind; wenn man die Arme ausstreckt, fühlt man Stein mit beiden Händen. Meine Gasse ist weder breit noch lang. Schon bald laufe ich einen Waldweg hinauf. Der Hügel vor mir ist die Rücken des Hügels auf dessen anderer Seite die Yuelu-Akademie liegt.
„Der Weg ist gut,“ denke ich. Denn ich bin hier für chinesische Verhältnisse allein. Als ich zuletzt diesen Hügel von der anderen Seite bestieg, teilte ich jede Treppenstufe mit drei Chinesen. Hier treffe ich nur alle 50 Meter auf einen anderen Einsamen.
Doch der Weg zieht sich. Das ist nicht gut, ich habe Angst, dass die Dunkelheit kommt, während ich noch im Wald bin. Aber viel zu schnell erreiche ich die gepflasterten Straßen auf der anderen Seite des Hügels. Diese Straßen sind der Grund, warum ich nicht viel erwarte von der Akademie. In China stehen sogar die Touristenattraktionen in Konkurrenz zueinander. Sie bekommen Noten. Die Yuelu-Akademie hat ein AAAAA! Das ist die Bestnote. Um den Andrang einzufangen, den eine AAAAAAtraktion anzieht, werden diese meist zu Tode betoniert. Der Park um die Akademie könnte schön sein, wären dort nicht all die Straßen, Autos und Parkplätze. Ich erwarte nichts von der Akademie, eher missmutig trotte ich vor mich hin.
„I love you“, sagt mir ein junges Mädchen in Schuluniform.
„You are so tall, I love you,“ sagt sie.
Mir geht’s sofort besser. Die Chinesen sind eines der touristenfreundlichsten Länder der Welt und sie verstecken ihre Zuneigung nicht. Da die Zuneigung meist in ein schlechtes Englisch gewickelt ist, kommt sie oft recht direkt daher.
„Should we get married?“ frage ich meine viel zu junge Verehrerin lachend. Sie versteht nicht, doch ihr Freund neben ihr tut es und schleift sie schnell von mir weg.
Sie ruft noch: „You are so handsome!“ Er schleift schneller.
Ich stelle mir vor, ich würde mit meiner Freundin in Berlin spazieren gehen und sie würde dem ersten dahergelaufenen Asiaten solche Anträge machen, weil er so schön schwarzes Haar hat.
Lustig ist es meistens und oft schaffen irgendwelche Chinesen es, durch ihre Freundlichkeit jeden Anflug von schlechter Laune zu vertreiben. Ein paar Tage später zum Beispiel sollte ich mich vor einem ekelhaften Dauerregen in ein Café flüchten. Ich war müde und nass, was keine gute Kombination ist. Schlimmer noch, es bestand auf Stunden, keine Hoffnung zu trocknen, denn im Café war es genauso feucht wie in der Uni, in die ich in ein paar Stunden zurück musste. Missmutig ließ ich mich in einen der kitschigen Sessel plumpsen. Doch die Belegschaft freute sich sehr. Sie freute sich, dass ein Ausländer in ihrem Café war. Während sie gemeinsam meinen Kaffee zubereiteten, sahen sie immer wieder kichernd zu mir herüber. Als mir die mutigste den Kaffee brachte, blieb sie an meinen Tisch stehen und beobachtete mich beim Trinken.
Ich lächelte sie an, sie strahlte zurück.
„Wir wollen dir was sagen“, verriet sie mir auf Englisch.
Sie deutete über ihre Schulter auf ihre zwei Kollegen.
„Wir alle lieben dich“, sagte sie.
Ihre Kollegen strahlten mich an.
„Die sahen mir gleich schwul aus“, dachte ich.
Sicher, mit ihrem Liebesgeständnis wollen sie mir nur sagen, dass ich willkommen sei. Ich hoffe bloß, das sie niemals besser Englisch lernen. Ich möchte immer so begrüßt werden, das ist besser als „Oh, Kapitän mein Kapitän“, ich werde öfter kommen. Meine schlechte Laune war übrigens weg und die Feuchtigkeit spürte ich kaum noch.
Aber zurück zur Akademie in der ich endlich bin. Die ersten Meter im alten Gebäude langweilten mich, da ich meine eigene Langeweile mitgebracht hatte. Ich hatte nichts erwartet und fand genau das. Ich hatte nur Spaß daran, Fotos zu machen. Ich dachte, dass dies die typische pseudo-antike chinesische Touristenattraktion sei. In China hat man eine andere Definition von Authentizität. Wenn das Haus alle 100 Jahre nachgebaut wird, gilt es immer noch als original.
„Und das sieht man“, dachte ich, ganz der dumme Europäer.
„Wenigstens habe ich eine gute Zeit erwischt, ich bin fast allein hier.“
Ich schlenderte durchs Haus, durch die Häuser, von Hof zu Hof. Wie in einer Matroschkapuppe versteckte sich in der Akademie ein Hof im anderen, das war ein Labyrinth. Ich mag Labyrinthe. Und plötzlich, als hätte ich die Augen ein zweites Mal geöffnet, sah ich, wie schön es war um mich herum. Ich sah die Akademie mit den Augen eines Kindes, mit meinen Kinderaugen.
Als ich Kind war, ist meine Mutter mit mir durch Asien gereist. Damals als Kind liebte ich es, durch die Tempel und Paläste Indiens und die Gärten Chinas zu stromern. Sie für mich zu entdecken und mit den Gestalten meiner Phantasie zu bevölkern.
Die Akademie ist wunderschön, doch um das zu sehen, brauchte der Großkalle, die Augen seines inneren Kindes. Erinnerungen an Kindertage. Nein: erneutes Erleben der Kindertage. Kleinkalle weiß, wie schön es hier ist, er kennt es.
Und dann glitt ich tatsächlich langsam auf die Knie, machte mich klein, um ganz die Perspektive eines Kindes einzunehmen.
Ja.
Ich schaue mich um, schaue herauf.
Ja.
Genauso war es, so sah es aus, als ich ein Kind war.
Für Sekunden bin ich dieses Kind.
Zum Glück bin ich allein. Kein Chinese sieht diesen merkwürdigen Ausländer, der auf den Knien mit nassen Augen auf eine alte Pagode starrt. Wahrscheinlich würden sie ihn lieben.
Deshalb bin ich hier. Ich bin hier, um mich zu finden, mir treu zu bleiben und mich dabei neu zu erfinden. Um zu finden, was ich verlor, und zu erreichen, was ich noch nicht hatte, dazu bin ich hier.