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Familienleben und Lagerkoller

Auf den Reisfeldern um das Tanghaus ist die Welt immer noch nicht untergegangen, aber wir gehen uns manchmal auf die Nerven. Um Angst zu bekommen, muss ich in die 5. Dimension eintauchen. Ich habe ja ein schmutziges Vergnügen daran, im Netz dumme Kommentare zu lesen und lese auch heute am liebsten in jenen Gruppen und Strängen, in denen die Schreiber am lustigsten eskalieren. Sehr empfehlen kann ich dazu, die Facebookseite »Shanghaiist«. Der Shanghaiist ist so etwas wie die Bildzeitung für internationale Gastarbeiter in China, die gar nicht in China sein wollen. Schon an normalen Tagen beschreiben die dortigen Artikel vor allem, wie grauenvoll China und insbesondere die Chinesen wären und die Leser glauben alles, was China schlecht macht. Zur Zeit  reichen die Kommentare dort von: »wir werden alle sterben« bis zu »Möge Gott uns retten«. Aber auch, wenn ich gern über diese Eskalisten lache, die wahrscheinlich auf den Weltuntergang warten, weil dann endlich mal was passierte in ihren Leben, ist die Situation nicht komisch. SARS-Cov-2, wie der Virus offiziell heißt, wird wohl um die Welt gehen. Und auch wenn nicht viele erkrankte sterben, werden sich so viele anstecken, das es insgesamt zu vielen Opfern kommen könnte. Der Weltuntergang wird zwar ein Onlinephänomen bleiben, Covid-19 kann aber ein jährliches werden.    

Heute schon hat der Virus oder besser dessen Bohei hüben zu Verwerfungen geführt, über die wir hier drüben stolpern und zusammenstossen, in diesem kleinen Haus muss eine Familie und ein Fremder unerwartete Nähe überstehen. Ich spüre innerhalb meiner neuen Familie keine Angst, bin auch beeindruckt, von der Disziplin, mit der sich die Dorfmenschen voneinander fern halten. Denn sich fernzuhalten, ist sehr unchinesisch. Bei uns heißt es ja immer, Chinesen seien Kollektivmenschen. Man könnte aber auch sagen, dass sie gesellig sind. In meinen ersten Tagen im Tanghaus hatte ich das Gefühl, dass es nur Türen habe, um sie den Gästen aufzuhalten. Es war ein stetiges Kommen und Gehen, Reden und Lachen. Das ist vorbei. 

Allerdings sind wir nicht ganz allein, denn das Tang Haus steht nicht ganz allein. Es hat einen Nachbarn: Es ist noch ein Tanghaus!

Das zweite ist eigentlich das erste Tanghaus, denn es ist älter. Dort wohnte einst Tings Großmutter, heute lebt dort ihr jüngster Onkel samt Familie. Onkel Mao ist der Handwerker und Schlachter der Familie. Ein hagerer Mann, der gerne, lacht, spielt und raucht. Seine Frau heißt Chong und sie lacht noch mehr, sie hat die Kunst gemeistert, zugleich zu lachen und zu sprechen. Wann sie atmet, weiß ich nicht. Ich mag die beiden, sie lassen sich vom Leben die Freude nicht nehmen. 

Die beiden haben 2 Töchter. Die größere heißt Qian und ist 14 Jahre alt und verhält sich auch so: sie bleibt meist auf ihren Zimmer. Außerdem ist sie adoptiert.

Die kleinere heißt Jen Jen, ist eine künstliche Befruchtung und ein wenig jünger als Tian Tian. Jen Jen ist ein unglückliches Kind. Sobald Tian Tian ihr ein Spielzeug wegnimmt, sobald ihr Lieblingsessen alle ist, sobald etwas unerwartetes geschieht verharrt Jen Jen, lässt ihr Lächeln fliegen, erstarrt und wendet das Gesicht zur nächsten Wand. Wenn dann jemand oder ich mit ihr spreche, schaut sie nur zu Boden und schüttelt ihr Haupt. Wenn man dann aber bei ihr bleibt, merkt sie das. Kürzlich durfte ich sie das erste mal auf den Arm nehmen. 

Außer den zwei Tangfamilien und dem Virusschatten leben hier noch 20 Hühner und eine weiße Hündin mit ihren 3 Welpen. Die Hündin hat keinen Namen und darf nie ins Haus, sie und ihre Kinder wohnen bei den Hühnern. Sie wird nicht einmal gestreichelt und ich sagte Ting, dass Chinesen sehr gemein zu Tieren wären.

Seitdem ich weiß, dass Covid-19 für Kinder kaum gefährlich ist, habe ich weniger Angst. Nichtsdestotrotz komme ich beim Schreiben und auch im Leben hier, immer wieder auf den Virus zurück. Anders als in den Städten bestimmt oder beendet er den Alltag hier nicht. Covid-19 ist eher wie ein beständiger Störton, so als hätte der Tag Tinnitus. 

Morgens erwache ich gegen 7 Uhr, was spät ist, für mich, aber auch meine innere Uhr scheint verstanden zu haben, dass es nichts zu tun gibt und lässt mich den Morgen verschlafen. wenn ich dann erwache bleibe ich oft liegen. Über der Decke ist es kalt aber unter der Decke liegt Ting und ist warm. Dann höre ich unter der Decke ein Hörbuch, lerne chinesisch, checke aber zuerst die Infiziertenzahlen. 

Wenn wir herab gehen, erwartet uns Mutter Zhang mit dem Frühstück und vorwürfen, weil wir so spät aufstehen. Eigentlich habe ich mir Frühstücken abgewöhnt und genieße nichts zu essen genauso sehr wie gutes Essen. Aber eine Mahlzeit auszulassen ist im chinesischen Katalog des Schlechten das Schlimmste. Deshalb esse ich alles, was Mutter Zhang mir gibt. Ting meint, dass ihre Mutter normalerweise nur für Mittagessen und Abendbrot zuständig ist und ob ich mir mein Frühstück nicht selbst machen könne. Es sieht so aus, als müsste ich mir, das Frühstück, dass ich nicht essen will, bald selbst zubereiten. Die 2. Todsünde im chinesischen Katalog ist es, eine Mahlzeit zu verschieben, deshalb folgt auf ein spätes Frühstück schnell das pünktliche Mittagessen: das Leben hier besteht größtenteils aus Mahlzeiten, die nicht nur lecker und zahlreich sondern leider auch groß sind. Bevor mich irgendein Coronavirus findet, platze ich wahrscheinlich. Das wäre auch ein Tod, der gut zu mir passte. 

Vielleicht ist es aber auch der Plan meiner Schwiegereltern, mich zu Tode zu füttern? Vielleicht ist es eine alte chinesische Landtradition. Der Verlobte wird gemästet und in der Hochzeitsnacht beißt die Braut dem Bräutigam den Kopf ab  und die Familie verspeist ihn.

Wenn ich aber bedenke, was hier jeden Tag auf den Tisch kommt, dann scheint mir, dass mir das auch geschehen kann. 

In jeder Familie wird aber nicht nur essen, sondern auch Klatsch und Gerüchte serviert. Von diesem Gericht, auf das nein Hunger groß ist, bin ich lieder ausgeschlossen. Das liegt zum größeren an meinem schlechten chinesisch und zum kleineren Teil  an dem Hunandialekt der Tangs. Normalerweise bin ich derart introvertiert, dass es mich kaum stört, mit niemanden reden zu können. Jetzt geht mir aber, die klare Rollenverteilungen: die Tangs reden und ich verstehe nichts, auf die Nerven. Ich möchte zur Zeit nicht nur Online lesen, was in China geschieht, sondern auch wissen, ob es in meiner Nachbarschaft Gründe gibt, Angst zu haben. 

Ting übersetzt mir nur hin und wieder Informatiönchen. 

Wie sprechen von der Kindheit – sie sagen, du seist sehr groß. 

Meistens gibt es nur 1 oder 2 solcher Schnipsel pro Mahlzeit. 

Was ich so erfahre richtet sich leider nicht nachdem, was ich wissen möchte, sondern mehr danach, worüber die Tangs sprechen und am meisten danach, was Ting mir übersetzen will.

Zum Frühstück gibt es Nudeln und Ting übersetzt: »Mama hat vor zwei Wochen einen Mann aus Wuhan getroffen und macht sich jetzt sorgen«.

Während des Mittagessens schaut links ein Hühnerkopf und rechts zwei Hühnerfüße aus dem Suppentopf, ich erfahre: »Ein Kollege des Vaters ist seit ein paar Tagen spurlos verschwunden«.

zum Abend gibt es Schildkröte. Das Fleisch ist eine merkwürdige Mischung aus Glibber, zäh und Knochen und schmeckt trotzdem. Jedes Stück sah leicht außerirdisch aus. Nie wusste ich, ob ich Muskeln, Haut oder Organ esse. Oft fragte ich daher Ting Ting: »Kann man das essen?« immer sagt sie genervt »ja«. Einmal beschaute sie danach ein Stück Schildkröte, dass sie sich selbst genommen hatte, kam schnell zum Schluss, dass es ihr nicht gefällt, legte es in meine Schüssel und sagte: »Dieser Kollege hatte hohe Spielschulden und sei deshalb weggerannt«

Beim Nudelfrühstück: »Die Dorfbewohner sind neugierig auf dich« und »Eine Familie, in der einer in Wuhan arbeitet, steht unter Hausarrest, bisher ist aber niemand krank. Die Familie selbst hat ihren Wuhanheimkehrer in dessen Schlafzimmer eingesperrt«. Diese chinesischen Quarantänen scheinen die Form von russischen Matrjoschkas anzunehmen

Zum Abendessen gibt es ungelegte Eier in Hühnerblut, ich höre: »der verschwundene Kollege wurde gefunden. Seine Leiche trieb im Stausee. Er hat sich wohl wegen seiner Spielschulden umgebracht«

Insgesamt ist mein Eindruck, dass die Tangs recht wenig Angst und viele andere Themen und mich noch nicht im Schlafzimmer eingesperrt haben. Das sind gute Zeichen, denke ich.  

 Zwischen die Mahlzeiten presse ich, was ich tun möchte: Schreiben und heimliche Spaziergänge. Meine Hauptbeschäftigung und Dolmetscherin bleibt aber Ting Ting. Ich las meinen letzten Blogeintrag noch einmal und befürchte, dass ich hier ein wenig unrecht tat, es stimmt zwar: sie trägt Seidenkleider, sie flucht, sie ist stur, jedoch ist sie keine vor sich hinfluchene Willensmaschine. Die meiste Zeit über ist sie still. Sie ist ein schüchternes Wesen und hat Angst ihre Meinung zu sagen, auch Ihre Verweigerungen sind meist still. Verdammt sie kann sogar still fluchen! 

Ting ist oft still, weil sie traurig ist und ich habe den Eindruck, dass ihr auf ihrem Weg ein Unglück widerfahren ist, von dem sie schweigt. Ich denke nicht, dass es ein singuläres Ereignis, war sondern der Druck ist, erfolgreich und glücklich zu sein, denn wer bei all den Luxusgütern und dem Arbeitsspaß nicht glücklich erfolgreich ist, der ist selber Schuld. Das ist zumindest der Narrativ in den Köpfen so mancher.

Ich wiederum bewundere Ting dafür, was sie erreicht hat. Den sie war die 1. aus ihrer Familie, die den Gaokao bestand und studieren konnte. De erste die ins Ausland ging: die erste die vom traditionellen Trampelpfad wich und ohne Kompass  durchs Leben stolpert. Sie ist aber oft traurig mit sich. Das bricht mir das Herz ich sähe sie gern ein wenig glücklicher und versuche sie glücklich zu machen. Leider hilft es nicht, miteinander eingesperrt zu sein. Besonders in den letzten Tagen stritten wir über Dinge, über die wir sonst lachen.

bdr

Ich habe durchaus Probleme mit dem Quarantäneleben und rutsche immer wieder in einen Lagerkoller, das besonders an Tagen, die so kalt sin, dass mir sogar die Reisfelder als letztes Versteck verschlossen sind. Das Haus hat 10 Zimmer. darunter sind 9 Zimmer Arschkalt und eines immer voll. Ich hasse die Kälte und bin introvertiert. Insgesamt bin ich erstaunt, dass ich nicht täglich eskaliere.

Stattdessen lerne ich Dinge – wie z.B. Schreiben – von denen ich dachte, dass ich sie nur tun kann, wenn ich ganz allein bin, unter den Tangs zu tun. Sie zu tun, während Tian Tian meinen Namen ruft, weil ich mit ihr spielen soll; Jen Jen möchte, dass ich sie in die Luft werfe; Papa Tang Videos auf seinen Handy schaut, ohne einen Kopfhörer zu benutzen; Ting Gemüse wäscht und mich böse anschaut, weil ich es nicht tue; Mama Tang mit Schwägerin Tang Karten spielt und eine Ente auf dem Hof entrüstet schnattert, weil Lehrer Tang und Onkel Mao dabei sind, sie umzuschubsen. Das ist Familienleben: Großfamilienleben. Hätten die Verwandten kein Besuchsverbot, es wäre noch mehr los. 

Der Ort an dem all dies geschieht, ist das eine Zimmer, das geheizt ist. Wobei »geheizt« einer Eingrenzung bedarf. Geheizt ist nur der Tisch, der an der Nordwand zum Hinterhof und Hühnerstall hin steht. Hier essen wir und hier sitzt jeder, der keine ander Aufgabe hat. Es ist ein roter runder Tisch und statt Tischbeinen hat er einen Ofen. Die Tischfläche besteht aus 3 Kreisen. Auf der äußeren, kann jeder seine Teetasse, Reisschüssel oder sonst was abstellen, der mittlere Kreis ist drehbar und hier stehen zu den Essenszeiten die Speisen, der innerste Kreis ist ein Loch über dem Ofen, in welches man schmeißen, was man verbrennen oder auf das man stellen kann, was man kochen will. Meist steht dort ein übergroßer Teekessel. 

An diesem Tisch sitzen wir alle und ich schreibe hier. Da ich meinen Computer nicht auf eine Tischplatte stellen möchte, die im Laufe des Tages immer heißer wird, steht er auf einem Hocker und ich sitze im Profil zum Tisch, weshalb meine Rechte Seite verbrannt und meine Linke durchgefroren ist. Der Raum in den der Tisch steht, habe ich die gute Stube getauft. Das ist nicht sonderlich originell. aber ich konnte mir unter der »guten Stube« bis jetzt nicht vorstellen. Im Haus der Tangs ist die gute Stube ein Allzweckswohnarbeitszimmer. Wände und Boden sind nackter Beton und die Decke Holz. Links des Tisches liegt Kleinholz, hier kann, wer soll, Holzhacken. Ein einziges Mal sollte ich können, konnte aber nur so langsam hacken, dass ich nie wieder sollte. So hacke ich nicht sitze aber stets in der Nähe des Holzhaufens, der hin und wieder von einem Tang mit der Axt und manchmal auch mit einer Motorsäge bearbeitet wird. Ich beobachte den Holzpegel genau, wenn er mir zu niedrig scheint, versuche ich sehr beschäftigt mit Tian Tian zu spielen, damit auch wirklich niemand auf die Idee kommt, mich hacken oder sägen zu lassen. Vom letzten Hacken hatte ich 4 Tage lang Rückenschmerzen. Einmal als Lehrer Tang mit der Motorsäge zu Gange war, meinte meine Ting, dass ich ihm helfen solle. Also stellte ich mich ängstlich daneben, befürchtete jemand gäbe mir die Säge und stellte mir vor, wie es sich anfühle, sich ein Bein anzusägen. Ich möchte nicht ins Krankenhaus. Hier auf den Land sind nur Hunde, Hühner, Enten und. Covid-19 ist ja keine Vogelgrippe. Im Krankenhaus aber sind fremde Menschen und die könnten ansteckend sein. 

cof

Lehrer Tang und Schwägerin Hui fahren oft mit Tian Tian Die Hui Hälfte der Familie besuchen. Vater Tang muss arbeiten. Wir anderen bleiben zu Hause und versuchen, die Zeit zu vertreiben. 

Ting und ich haben ein Brettspiel mitgebracht und so sitzt oft die ganze Familie zusammen und spielt die Siedler von Katan. Besonders Onkel Mao und Schwägerin Hui lieben das Spiel. Eine Seuche zum Katanmarathon zu machen, finde ich gut, was mich aber stört ist dass Schwägerin Hui jede Partie gewinnt und dass die Familie meint, man könne nicht spielen, ohne zu essen. ich mag nicht mehr essen, wenn ich hier raus bin, werde ich fasten. Allerdings sind sie Snacks die es zum Spiel gibt, sehr gut. Es gibt Mandarinen, Apfelsinen und Nüsse. Dazu serviert Mutter Tang selbstgemachte Süßkartoffelchips. 

Manchmal gehe ich mit Lehrer Tang fischen. Wenn wir im nahegelegenen Bach fischen, schnallt sich Lehrer Tang eine Autobatterie auf den Rücken. In der einen Hand nimmt er einen langen Stab, an dessen Ende Elektroschocker stecken. In der anderen Hand hat er eine Art Schmetterlingsnetz, mit dem er die geschockten Fische einsammelt. Die Methode scheint mir brutal, aber weil ich Aal bekomme, sage ich nichts.

Wenn wir im Familienfischteich fischen, dann angeln wir. Bei der Gelegenheit sitzen wir schweigend nebeneinander. Manchmal leistet uns Tian Tian Gesellschaft und schreit, weil es ihr zu still ist. Bienen summen um die ersten Frühlingsblumen und es ist das 1. Mal, dass sich angele und ich liebe es. Stillsitzen und auch Fische warten, scheint zu mir zu passen. Die Gespräche mit Lehrer Tang sind eintönig, da er zwar ein wenig Englisch kann, aber meistens nur 2 Worte benutzt. 

das geht dann ungefähr so  … 

Er: »o. k.?«

Ich: »o. k.!«

Er: »good.«

aber später haben wir noch ein Bier zusammen getrunken, daher gehe ich davon aus, dass wir uns verstanden haben. Irgendwann musste er denn gehen und als ich fragte, sagte Ting, dass er jetzt mit Onkel Mao die Hundewelpen  einsammeln muss. 

Ich machte mir Sorgen und fragte: »Werden sie die Welpen schlachten?«

Ting sah mich schräg an und sagte: »natürlich nicht«

dann vermutete ich, dass sie in einen Sack kämen und im Fischteich landeten. Ting wunderte sich, wo ich solche Horrorgeschichten her hätte und als ich ihr sagte, das in Deutschland Bauern sowas mit einen Welpenüberschuss machten, sagte sie: »ihr Deutschen seid sehr gemein zu Tieren«.  

An den Abenden Versuche ich eine Bildungslücke von Ting zu füllen. Sie hat nämlich noch nie einen einzigen Quentin Tarantino Film gesehen. Wir begannen mi den letzten und sahen »once upon a time in Hollywood. Der Film hat ihr ganz gut gefallen, aber als am Ende die Tarantino typische Gewalt ausbrach, da lachte sie, Sie lachte, wie sie noch nie davon gehört habe, sie lachte wie ein glückliches Kind an Weihnachten. Manchmal macht sie mir Angst. Aber wir schauen jetzt jeden Abend einen Tarantino Film, ich sagte ja schon, ich mache sie gern glücklich und wenn es dazu Gewalt bedarf … Was soll’s!

 eine unserer Filmabende wurde aber unterbrochen. Wie schaut und gerade Django und waren schon im Bett, als Tings Mutter anrief ihr sagte, sie sollte noch einmal zur Familie herabkommen. Mir war klar, das ist ein unangenehmes Thema werden musste und bot Ting an, mitzukommen. Sie meinte aber, das sei keine gute Idee. Ich konnte ihr ansehen, dass ihr ein wenig mulmig war als sie herabging. 

Es war ein altes Thema, das Tings Eltern mit ihr besprechen wollten: die Eigentumswohnung. China ist kein Land von Mietern. Wer sich hier keine eigene Wohnung kauft, der lebt unter der gefühlten Armutsgrenze Chinas. eigentlich muss, wer heiraten will, schon eine Wohnung haben. Allerdings hatte Tings Bruder, als er seine Hui heiratete, keine eigene Wohnung. Daher kaufte ihm Tings Vater eine. Die Tangs wollten nun von Ting wissen, wann und wo wir eine Wohnung kaufen würden und ob meine Eltern dabei helfen würden. 

Es ist eines von Tings größten Zielen, mich dazu zu überreden, eine Wohnung zu kaufen. Ich bin kein großer Freund von der Idee, weil Kredite mir Angst machen. Ting verfolgt denke ich die Doppelstrategie mich zu überzeugen und bei ihren Eltern Zeit zu kaufen. Tings Vater scheint mit der Situation recht entspannt umzugehen aber ihre Mutter ist etwas nervöser und möchte, dass wir bald kaufen. Sie boten sogar an, dass wir, bis wir etwas gekauft haben, in den Hühnerstall ziehen können. Damit mich Ting nicht schlägt, wenn Sie diese Zeilen liest, muss ich meine Worte insoweit korrigieren, dass die Tangs angeboten, dass wir dort, wo der Hühnerstall steht,. Ein Haus bauen können, wenn wir uns nicht leisten können, in der Stadt eine Wohnung zu kaufen. Ich bin zu gleichen Teilen amüsiert, gerührt und erleichtert. Ich freue mich sehr über die Gastfreundschaft aber irgendwann wollte ich eigentlich wieder weg. 

Allerdings verspüre ich auch einen Hauch Erleichterung, der auch meine chinesische Familie den Weltuntergang nicht unmittelbar bevorstehen sieht, dass sie eine mögliche Eigentumswohnungslosigkeit ihrer Tochter stärker fürchten als Covid-19. 

Ich lerne hier viel über Nähe. Covid-19 hat mich stärker in diese chinesische Familie integriert als es das Frühlingsfest gekonnt hätte. Als Einzelkind habe ich noch nie in meinem Leben mit so vielen Menschen unter einen Dach gewohnt. Das letzte mal als ich so regelmässig meine Mahlzeiten mit mehr als einer ausgewählten Person einnahm, war ich auf Klassenfahrt. Das überraschende ist, es gefällt mir. Ich werde zwar introvertiert verbleiben, aber denke, dass ich diesem Familienleben öfter mal eine Chance geben sollte. Gestern aber, als es regnete und ich eingesperrt war, wäre ich am liebsten geflohen, war aber wie alle anderen auch an die Wärme des Ofentisches gebunden. Ich dachte, dass ich diesen Tag nicht überstehen könnte, ohne zu fluchen oder zu weinen und das Ting und ich uns nur deshalb nicht an die Kehle gehen können, weil wir beide mittlerweile ein Doppelkinn haben. 

Aber dann kam Onkel Mao und wir spielten Katan, aßen Süßkartoffelchips und lachten. Der Abend war gut.  




Die Tangs, der Coronavirus und ich

Tang ist Tings Familienname und Ting ist meine Freundin.

Das ist zwar schön aber auch nichtssagend. Also beantworte ich die ungestellte Frage: wer ist Tang Ting und was hat sie mit dem Coronavirus zu tun.
Ting ist – wie die meisten jungen Chinesen ein Sack voller Widersprüche, all die Widersprüche zwischen heute, gestern und Konfuzius. Ting ist natürlich ein edler Seidensack.

Von außen gesehen ist sie eine wunderschöne, kleine, wenn auch für hiesige Verhältnisse nicht winzige Frau mit großen Füßen und schiefen Zähnen, die ihr Lächeln bezaubernd in die Breite ziehen.
In ihr zahnschiefes Lächeln habe ich mich verliebt, als sie mir vor 5 Jahren in einer Bäckerei vorgestellt wurde und schüchtern zu mir herauf griente. Das ist zwar nicht ihre relevanteste Eigenschaft, aber wenn ich sie darauf anspreche, wirft sie mir einen ihrer bösen Blicke zu, von denen ich glaube, dass sie sie erfunden hat und von denen man sagt, dass sie dem Teufel ein schlechtes Gewissen machen könnten und die mehr über sie aussagen, als sie selbst weiß, dass sie nämlich, die sich für schwach hält, stark ist, dass ihre Schwäche eine jener Lügen ist, die Menschen sich selbst erzählen, wenn es Ihnen zu gut geht. Diese ihre Stärke ist schon relevanter.
Ting wäre so gerne eine feine Dame mit Eigentumswohnung, Erst- und Zweitwagen und einer Dauermitgliedschaft in jeder Shopping Mall der Stadt. Aber dazu ist sie viel zu stark und selbstständig. Sie träumt zwar von Chanel und kleidet sich westlich, aber rülpst auch, wenn es ihr passt, was oft geschieht. Danach streicht sie ihr Seidenkleidchen glatt, als sei nichts passiert. Wenn sie beim Essen nicht auf Englisch und Deutsch parliert, spuckt sie Knochenstücke auf den Tisch. Sorry, das war nun völlig irrelevant.

Außerdem schubst sie Hühner um. Nachdem wir nun zusammen wohnten, blieb ich vorerst ein Geheimnis vor der Familie. Aber Ting fuhr oft zu ihnen aufs Land hinaus und brachte, wenn sie zurück kam, einen Sack voller Gemüse, Enten, Hühner, Schmalz und Schweineteilen mit. Lieber noch als das Schmalz war mir die Art, wie sie das Fleisch ankündigte. Sie rief mich dann an und sagte glücklich, heute haben wir ein Hühnchen für Dich umgeschubst. Dies ist eine dieser Aussagen, die man sorgfältig dekonstruieren sollte.

»Heute haben wir ein Hühnchen für Dich umgeschubst.«

Wir heißt, dass Tings Mutter ihren Schwiegerbruder gebeten hat, zu schubsen. Dich heißt hier auf gar keinen Fall mich, sondern sie, also eigentlich, dass Tings Mutter das Hühnchen Ting geben wollte. Umgeschubst heißt geschlachtet. Korrekt wäre also: »Mein Onkel hat ein Hühnchen für mich geschlachtet«.
Auch darüber hätte ich mich sehr gefreut.

Da das Land, auf der Tings Familie lebt, nicht weit entfernt ist von der Stadt, in der wir wohnen, fuhr Ting regelmäßig hinaus und brachte jedesmal Liebesdiebesgut mit. Als unser Tiefkühler zu platzen drohte, fragte ich einmal, ob es nicht genug sei, mit dem Umschubsen aber Ting sagte, dass sie die Geschenke ihrer Mutter nicht ablehnen könne, weil das sonst sei, als lehnte sie ihre Liebe ab.

Da ich die Vorstellung von Ting, die übers Land schlich und Hühner umschubste, liebe, sagte ich ihr lange nicht, dass das richtige Wort »schlachten« sei. Sie war mir dafür lange böse und verlangt nun, dass ich sie immer und sofort korrigiere, wenn sie einen Fehler macht. Ting spricht sehr gut Deutsch, mit dem Wort „schlachten“ aber hatte sie lange Probleme. Zuerst sagte nach meiner Korrektur „umschlachten“ statt umschubsen, später dann rief sie mich an und sagte mir, dass sie ein Hühnchen für mich ermordet hätte.
Normalerweise aber ergänzt sie ihren Fleiß in Bezug auf die Sprachlernerei mit Begabung und lernt neue Worte und Redewendungen schneller, als es mir lieb ist.
Sie wird so langsam zu meinem Sprachklon. Manchmal habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Denn Ting träumt davon, einmal bei einer deutschen Firma zu arbeiten und ich fürchte, sie könnte ihre Karriere zerfluchen. Nun kann ich dafür nicht alle Lorbeeren in Anspruch nehmen, denn Ting ist Chinesin und kann daher von Kultur aus fluchen. Nachdem wir nun über ein Jahr zusammenwohnen, flucht sie deutsch – wer sich ärgert, will verstanden werden – und es sind Hinterhofflüche.
Eigentlich fühle ich mich wie zuhause, wenn ich aus der Küche den Wutschrei »verfickte Kacke, das Gas ist alle« höre. Auch ist sie zu jedem Fluch bestens angezogen. Wer im Ballkleid wie ein Postkutscher fluchen kann, der hat meine volle Aufmerksamkeit. Allerdings ist auch ihre Sprachbegabung irrelevant, weil es nichts mit dem Virus zu schaffen hat.

Sie flucht oft, oft schon morgens beim Schminken, daran kann und möchte ich nichts ändern. Würde ich sie bitten, weniger zu fluchen, bekäme ich sicherlich einen bösen Blick und vielleicht auch einen Gratisfluch. Sie ist nicht gut darin, Dinge zu tun, die sie nicht tun möchte und das ist schon relevanter.

Etwas, was Ting ihrer Familie lange schon verweigert, ist ihre Heirat. In China gilt nur als erwachsen, wer verheiratet ist, und die Alten glauben, dass eine Frau erst etwas erreicht bzw. ihre Zukunft gesichert hat, wenn sie einen Mann hat. Tings Familie macht Druck, viel Druck, und das schon lange, länger als Ting und ich uns kennen. Normalerweise sollten Frauen spätestens nach dem Uniabschluss einen Ring nehmen, dem Ringspender ein Kind schenken und beiden den Haushalt führen. Das ist ein großer Preis für einen kleinen Ring und daher stimmen dieser Idee nicht alle jungen Frauen zu. Ting wird dieses Jahr 34. Sie ist eine Romantikerin, möchte Kinder und Familie (wahrscheinlich um sie anzufluchen), möchte aber beides zu ihren Bedingungen.
Von der Familie Tang weiß ich wenig, eigentlich nur, dass Ting sich mit ihnen immer wieder stritt: meinetwegen. Denn die Tangs waren nicht damit einverstanden, dass der Lover ihrer einzigen Tochter deutsch, alt und arm ist.
Tings Mutter versuchte sie regelmässig zu verkuppeln. Schlug ihr Dates vor, lud nette Nachbarknaben zum Mittagessen ein, versandte Links zu Datingwebsites, sprach über die Vorzüge des Ehe- und die Gefahren des Singlelebens, warnte beiläufig vor Ausländern, sprach davon, dass sie selbst und der Vater nicht glücklich sein könnten, solange Ting nicht unter der Haube sei. D.h Mama drohte, weinte, intrigierte, flehte, warb, bestach und schwieg beleidigt.
Alles aber half nichts. Ting blieb stur. Sie ist so stur wie ich. Das heißt, dass wir beide oft damit beschäftig sind, nicht zu tun, was der Andere will, was uns beide viel Kraft kostet. Aber auch wenn wir uns gelegentlich gegenseitig ansturen, will sie mich und will, dass ihre Familie mich akzeptiert.

Ich hatte vermutet, dass die Traditionen in den Köpfen der Familie Tang härter seien als der Dickkopf meiner Ting.

Das war falsch.

Tradition für Einwand zerbrach an Ihrem Dickschädel und einer nach dem anderen der Tangs akzeptierte mich. Den Denkprozess der Eltern stelle ich mir ungefähr so vor, dass ein ausländischer Schwiegersohn doch vertretbar sei, wenn die einzige Tochter im Austausch endlich einen Ring bekäme.
Dass der Kampf um Selbstbestimmung dazu führt, freiwillig jemanden wie mich zu heiraten, ist eine schlechte Nachricht, ist aber sehr relevant für den Virus, oder zumindest dafür, wie ich seinen Ausbruch erlebte.

Im Dezember, also ungefähr zu der Zeit, als ich das erste mal vom neuen Coronavirus las, traf ich das erste mal Tang Tings Bruder zum Essen in einem Restaurant in Changsha. Ein paar Wochen später waren wir dann zum Essen in der Wohnung des Bruders eingeladen. Tings Eltern würden auch da sein. Das Essen verlief scheinbar gut, denn nachher war ich zur Feier des chinesischen Neujahrs eingeladen. Zu dieser Zeit wuchs die chinesische und internationale Sorge wegen der Ansteckungsgefahr und mir dämmerte, dass ich so gut wie verheiratet bin.
Familie Tang besteht aus der oben erwähnten Mutter Tang die immer noch Zhang mit Familiennamen heißt. Denn in China ändert, wer heiratet, seinen Namen nicht. Früher war sie – wie ihr Ehemann – Bäuerin, heute, wo ihr Ehemann für die Regierung arbeitet, bleibt alle Hausarbeit an ihr hängen.
Vater Tang heißt wirklich so und ist sowas wie der Dorfvorsteher … Bürgermeister … 1. Parteivertreter der 17. Straße? Ting meint, er sei so etwas wie ein Bürgermeister für einen Abschnitt des Dorfes.
Dann gibt es noch Tings jüngeren Brüder, den alle in der Familie Lehrer Tang nennen und dessen Frau Hui Hui. Von der ich nach 2 Wochen immer noch nicht viel weiß, außer dass ich es nicht schaffe, sie beim Siedlerspiel zu besiegen.
Und schließlich Tian Tian, die 3-jährige Tochter der beiden, die quietschvergnügt die Hauptrolle in der Familie spielt und ohne die ich nicht wüsste, was ich den Großteil des Tages tun sollte.
Dazu gibt es noch eine ganze Bande von Onkels, Cousins, Tanten und Nichten, die ich jetzt nicht alle aufzählen mag und die auch im Verlauf der Tage bei der Familie Tang keine so große Rolle spielten, wie ihnen zugedacht war.

So ein chinesisches Neujahrsfest ist ungefähr wie ein deutsches Weihnachten. Nur länger und mit besserem Essen. Allerdings wurde es so lang, dass ich begann, mich nach deutschem Essen zu sehnen. Diese Tage folgen – wie alle chinesischen Feiertage – dem Mondkalender. Daher fiel der chinesische 30 Dezember dieses Jahr auf den europäischen 24. Januar und am 19. gingen wir zu den Tangs. Wir wollten 6 Tage bleiben.

Das Tang-Haus liegt in einem schmalen Tal zwischen niedrigen Hügeln und ist von Reisfeldern umschlossen. Die Winter Hunans sind dunkel und nass, ganz ähnlich wie in Berlin – nur mit weniger Heizung. Dunkelheit wie Kälte verdirbt mir immer die Laune, daher mochte ich Haus und Tal zu Anfang nicht.
In der Raumunion aus Vor- und Wohnzimmer hängt auch ein Ahnenschrein inklusive Mao-Bild. Kurz vor dem chinesischen Neujahr feiern die Tangs auch den Geburtstag der verstorbenen Großmutter. Dabei wird Papiergeld verbrannt, das hat mir gefallen, denn Dinge verbrennen finde ich gut. Die Tangs verbeugten sich auch vor dem Bild der Großmutter, was mich rührte, denn auch ich sollte mich niederwerfen, und dass ich derart in die Ahnenriten der Tangs integriert wurde, zeigte mir, wie gründlich sich Ting Tings Dickkopf durchgesetzt und wie sehr sie mich schon zum Tang gemacht hatte.
Es gab auch ein Hühneropfer, was mich erschrak, denn es war mein erstes Tieropfer. Kurz schlug Ting vor, dass ich das Huhn umschubsen solle, aber meinen Schrecken muss man mir angesehen haben und ich wurde verschont. Das Huhn allerdings ist tot. Umgeschlachtet wurde es vom Onkel Tang Guo Dong, den alle Onkel Mao nennen. Nachdem sie ihm die Kehle durchgeschnitten hatten (dem Huhn, nicht dem Onkel), fingen sie das Hühnerblut in einer Glassschüsel auf und stellten es vor den Ahnenschrein. Dort blieb es, bis wir es zum Abend aßen. Wirklich aßen und nicht tranken. Blutspeisen sind in Hunan nichts ungewöhnliches und wenn man nicht weiß, was man isst, könnte man denken, es wäre rotes Tofu. Ich finde daran nichts ekliges und die Vogelgrippe habe ich auch nicht bekommen. Vielleicht wäre ich davon, dass ich Zeuge wurde, wie Onkel Mao vor dem Gemälde Mao Zedongs ein Huhn opfert, stärker beeindruckt gewesen, wenn ich nicht ständig heimlich die Zahl der Infizierten gegoogelt hätte.

Aber zurück zum wesentlichen: Dem Essen. Das chinesische Essen ist gut und das Essen in Hunan ist besonders gut. Das Essen im Haus der Tang ist etwas besonderes für mich, denn es ist Bauernküche und nicht das übliche Restaurantchinesisch. Das ist positiv gemeint. Auch wenn vielleicht viele Deutsche Probleme hätten mit den Blutsuppen und Fleischgerichten, die größtenteils aus Fettstücken bestehen. Mir aber schmeckt es aus gezeichnet. Denn ich bin Berliner, und wer Currywurst, Eisbein und Kebab genießt, isst auch sowas. Schon beim ersten Abendessen bei den Tangs gab es Hühnerblut, Schweinefüße und Magen, aber natürlich auch schüsselweise Gemüse.

Am nächsten Morgen abonnierte ich den Situationsbericht der WHO zum Coronavirus, um den Infizierten effizienter folgen und mir besser Sorgen machen zu können. Allerdings sorgte ich mich nicht um meine Gesundheit, sondern um die von Tian Tian.
Tian Tian ist die jüngste Tang und die erste, die mich mit vollen Herzen adoptierte. Sie ist meine Rettung und sie hält mich für ihr Spielzeug. Da mein chinesisch nicht besonders ist und sicherlich nicht gut genug, um den Hunan-Dialekt der Tangs zu verstehen, bin ich aus den meisten Gesprächen und Vorgängen im Haus ausgeschlossen. Tian Tian hat daraus gefolgert, dass ich kein richtiger Erwachsener bin und mich zu ihrem Eigentum erklärt. Meine Hauptaufgabe ist mit ihr zu spielen, was mich davor rettet, mich mit Langeweile anzustecken.

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Das chinesische Neujahr ist dieses Jahr ausgefallen, es besteht nämlich eigentlich aus einer einwöchigen Kette von Verwandtschaftsbesuchen und einem ununterbrochenen Gelage. Dieses Jahr fielen die Besuche aus und die Tang-Kernfamilie und ich essen seit Wochen allein miteinander. An den ersten beiden Tagen kamen noch viele Gäste: Nachbarn und Verwandte. Als dann aber Wuhan unter Quarantäne kam, zogen die meisten Familien nach, riefen ihre privat Quarantäne und luden einander aus.

Und dann geschah nicht viel. Quarantäne ist zwar keine einsame Affäre, wenn man mit einer geliebten und 5 fremden Tangs in ein Haus gesperrt ist, es ist aber eher ein seltsames als ein spannendes Kammerspiel.

Dennoch wäre ich gern für ein paar Tage Panikgast in einer chinesischen Metropole, um einen Seuchenspaziergang zu machen. Sorge hätte ich bei einen Spaziergang keine, da die Straßen leer sind und man sich bei den vereinzelten Passanten, so man sie nicht anfasst, kaum anstecken kann. Man könnte das – ich muss es zugeben – Katastrophentourismus nennen, aber ich fühle mich in diesem Land nicht mehr als Tourist.
Hauptsächlich ist dieser Laufwunsch auch der Wunsch, überhaupt spazieren zu dürfen. Auch ich werde überwacht, allerdings nicht staatlich sondern familiär. Die Menschen wurden vom Dorfschulzen aufgefordert, zuhause zu bleiben und Spaziergänger, insbesondere die Auffälligen, werden dem Dorfschulzen gemeldet. Der Dorfschulze redet dann mit seiner Tochter (Ting Ting) welche dem Spazierer (mir) das Gehen verbietet. Hätte ich es mit irgendeinem chinesischen Schulzen zu tun, spielte ich die Weiße-Affen- Karte und ignorierte das. Ting kennt den Trick aber schon und kontrolliert mich via bösem Blick. Die einzigen Wege, die mir erlaubt sind, führen über die Reisfelder und wenn ich sie gehe, muss ich eine Maske tragen, die ich an diesem Orte für gänzlich unnötig halte. Trotzdem trage ich sie immer gewissenhaft, solange ich in Sichtweite des Tang-Hauses bin. Wenn ich mit Maske über die Reisfelder balanciere, fühle ich keine Katastrophe sondern mich albern. Auch erscheinen mir die Felder nicht leerer als üblich. So habe ich viele Enten und einen Kranich gesehen. Selbst die Lautsprecherwagen, die ein paar mal pro Tag durchs Dorf fahren und die neusten Coronaentwicklungen verkünden, schaffen nicht, in mir Weltuntergangsstimmung zu wecken.

Vielleicht wäre mein Eindruck anders, wenn ich jetzt in Changsha oder einer anderen Millionenstadt Chinas wäre, möglicherweise kann ich die Schwere der Lage nicht einschätzen, weil ich neu im Dorf bin und die Ausnahmesituation für mich Normalität ist, aber die größte Gefahr für mich ist wohl, dass ich, weil ich nicht spazieren darf und 3 mal pro Tag vorzügliche Bauernküche bekomme, fett werde.
Mein großes hollywoodeskes Abenteuer fällt wieder einmal aus. Stattdessen bleibt mein Leben merkwürdig: erst hatte ich Haus- und Tochterverbot bei den Tangs, aber jetzt darf ich nicht mehr weg.

Wegen des Coronavirus wurde nicht nur Wuhan in Hubei unter Quarantäne gestellt, sondern auch die Semesterferien im ganzen Land verlängert. Die Universitäten des Landes bleiben bis zum 6.März geschlossen, selbst meine widerwilligen Schwiegereltern wollen nicht, dass ich mich irgendeiner Gefahr aussetze. So bleibe ich im Haus der Tangs und kann vom Weltuntergang eigentlich nur berichten, was eine chinesische Familie in der Hunanprovinz daraus macht, das ist aber weniger »12 Monkeys« und mehr »ich heirate eine Familie«.