Auch wenn das Wohnheim, die Wohnheimbewohner und ihre Partys mich von mir abhalten, ist meine Hauptbeschäftigung doch meine Arbeit. Ich unterrichte fünf Tage die Woche Deutsch. Dabei muss ich an zwei Tagen um 8 und an drei um 10 Uhr beginnen. So habe ich mir angewöhnt um 9 manchmal auch um 8 schlafen zu gehen. Ich muss das so machen, um genug Kraft für die Arbeit zu haben. Bevor blöde Fragen kommen: Kalle Kolja lebt und ich bin er.
Ich gehe gern zeitig los, um in Ruhe frühstücken zu können und um dem studentischen Verkehr auszuweichen. Bekannt ist, dass es in China ein paar mehr Menschen gibt als in Europa. Natürlich ist auch der Berufsverkehr in China enger als bei uns. Davor hatte ich keine Angst und das war ein Fehler. In Berlin flanierte ich meist neben dem Berufsverkehr entlang. Der Berliner Berufsverkehr verstopft die Straßen und U-Bahnschächte, lässt die Bürgersteige aber schlafen. Da ich immer schon gern lief, nie ein Auto hatte und nie eins wollte, war der Berufsverkehr für mich etwas, das anderen Leuten passierte.
Hier gibt es so etwas wie einen Campus, eine Ansammlung von Wohnheimen, dort wohne ich und die Studenten. Und all diese Studenten müssen morgens zur Universität. Man denke an einen Fluss aus verschlafenen Leibern, der träge durch die Straßen fließt. Und mittendrin ich. Gefangen im Strom, gezwungen, langsam zu laufen. Ich hasse es, langsam zu laufen. Dabei langweile ich mich und schlafe ein. Manche sagen, ich sollte lernen, langsam zu gehen, mich zu entspannen. Aber dieses vor sich hin trotteln, hat nichts entspannendes für mich, es macht mich wütend, es macht mich zum Trottel. Wenn ich langsam gehe, versanden meine Gedanken, wenn ich langsam gehen muss, dann sollte mein Weg mich in den Schlaf führen, denn zu anderen Dingen bin ich bald nicht mehr nutze. An jedem Morgen und an manchen Abenden schleiche in der Masse langsam voran und meine Müdigkeit verdichtet sich zum Zorn. Ich möchte dann in Ärsche treten, aber leider dürfen in diesen Land Lehrer ihre Studenten nicht schlagen.
Apropos Studenten: ich habe Studenten. 31 Studenten habe ich und sie sind alle 18 Jahre alt.
Mit meiner Mutter hatte ich oft überlegt, wie wohl meine Studenten sein würden. Meine Mutter hat eine lange Zeit in Japan unterrichtet. Japanische Studenten sind sehr schüchtern, sagte sie und erzählte mir von ihrer ersten Deutschstunde in Japan, in der eine Studentin, der sie eine Frage stellte, sich unter ihrem Tisch versteckte. Chinesische Studenten sind wahrscheinlich genauso schüchtern, sagte meine Mutter. Das waren meine Erwartungen. Was man über Erwartungen wissen muss, wenn man im fremde Länder fährt, ist, dass Erwartungen ganz nett sein können, um sich die Wartezeit – z.B. im Flugzeug zu vertreiben -, dass es bei Erwartungen aber eher ums Warten, als ums Erfüllen geht. Um es abzukürzen, meine Studenten sind nicht schüchtern.
Sie sind 31. Sie sind 18 Jahre alt. Sie sind alle Anarchisten.
Als ich meine Studenten noch erwartete, also unbelastet von der Realität war, sorgte ich mich, ob denn der kommunikative Unterricht, den ich gelernt habe, überhaupt anwendbar wäre mit diesen Schüchternen. Als ich meinen Studenten das erste Mal eine kommunikative Aufgabe – eine Aufgabe, bei der sie miteinander reden sollen – gab; explodierte die Klasse. Es war zwar eine rein akustische Explosion, aber beinahe hätte ich mich unter meinem Tisch versteckt. Meine Studenten brüllten sich an, sie sollten diskutieren, doch sie pöbelten. Als ich schüchtern, von Tisch zu Tisch ging um meine Hilfe anzubieten, verstand ich, was sie sagten. Ich blieb trotzdem in meiner Rolle und korrigierte sie.
„Du bist geisteskrank!“ „Irre,“ schlug ich vor. „Du bist eine Eselin!“ „Blöde Kuh,“ dachte ich. „Ist mir scheißegal, was du sagst!.“ Der hier kann sofort in Deutschland studieren, dachte ich. „Fette Sau!“ Nein, ich war nicht gemeint.
Heute habe ich mich an meine Studenten gewöhnt und sie sich an mich. Ich habe mich sogar daran gewöhnt, wie viele sie sind, das fällt mir kaum noch auf. Nur an ihr Alter mag ich mich nicht gewöhnen, aber auch das ist nur eine Frage der Zeit.
Meine Schüler nennen mich Herr Buchholz. Ich habe mich so vorgestellt und fand es sehr bizarr. Herr Buchholz, das hört sich alt an, das hört sich an wie so ein seriöser Sack, der unter der Woche um 8 Uhr schlafen geht, um genug Kraft für die Arbeit zu haben. So ein dummer Kerl, der lieber trainiert als feiert und sich von Untergebenen mit „Herr Soundso“ ansprechen lässt. Ich hasse solche Menschen, ich hätte mich von meinen Schülern anders nennen lassen sollen… Oh, Kapitän, mein Kapitän, wäre angemessen gewesen. Immerhin führe ich sie aus dem Aquarium des Frontalunterrichts hinaus in den Ozean des kreativen Sprachgebrauchs.
Was es noch für Probleme gibt? Das Aussehen ist es nicht. Ich kann meine Schüler ganz wunderbar voneinander unterscheiden. Ich weiß zum Beispiel ganz genau, dass der große Pickelige mit der Brille der große Pickelige mit der Brille ist. Mein Probleme sind andere und so schreiben sie sich: Fan Zyiu, Shen Ningyuan, Gong Zihan, Li Linxian, Chen Tianxing, Liu Shu, Tang Yuhua, Wang Shu, Chen Shaohuai, Ma Yuyan, Liu Jiayi, Zhang Xiaoya, Hou Jiaya, Li Wenwei, Zhou Tianyu, Chen Guoyuan, … usw!
Chinesen geben sich auch nicht damit zufrieden, beim Vor- oder Nachnamen genannt zu werden. Der ganze Name muss es sein. Dank der chinesischen Töne klingt dabei ein Name oft nach dreien. Ich unterrichte sie seit einem Monat, aber ich kann nur wenige beim Namen nennen. Das ist mir peinlich. Viele Chinesen geben sich, genauer: lassen sich europäische Namen geben. Aber nachdem ich zwei mal darüber nachgedacht habe und erfahren habe, wie diese Namen zustande kommen, will ich sie nicht nutzen. Ich muss wohl Namen lernen.
Ich mag meine Studenten, nicht trotz, sondern weil sie Anarchisten sind. Außerdem geben sie witzige Antworten, wenn ich ihnen im Unterricht Fragen stelle. Einmal war die Aufgabe, die Route ihrer Traumreise zu notieren und auch zu erklären, warum sie wohin wollen. Meine Studenten wollten in die Antarktis: Pinguine verprügeln. Eine wollte nach Russland und in die USA, weil Putin und Obama sexy seien. Eine Gruppe hatte ihre Reiseziele mit Illustrationen versehen. Die üblichen Sachen halt, Freiheitsstatue, Eiffelturm usw. Die Illustration zu Japan war ein Wurm, der von einem Küken gefressen wird. Auf Nachfrage bekam ich die Erklärung, dass das Küken China und der Wurm Japan sei. Warum auch immer. Eine rein weibliche Reisegruppe sagte, sie wollen nach Russland, denn in Russland gäbe es die schönsten Frauen der Welt, die wollten sie sich anschauen. Ich werde wohl nie diese süß unschuldig lächelnden Chinesnnin vergessen, die zum Frauen-Kucken nach Russland wollen. Eine von ihnen war Li, die sich Lizzie Li nennen lässt. Li ist eine große Kämpferin für Schwulenrechte. In zwei Aufsätzen, die sie schreiben musste, deren Themen nichts mit Homosexualität zu tun hatten, hob sie an zu einen Plädoyer für die Gleichberechtigung von Schwulen. Aber auch ihr eigenes Geschlecht vergisst sie nicht. Als ich sie einmal im Unterricht fragte, warum es so viele Singles in China gibt, stand sie auf, strich ihre Kleidung zurecht und hielt eine Rede:
Wenn mich meine Eltern fragen, warum ich nicht wollen heiraten. Sagen ich, dass mir scheißegal! (…) Heute ein Frau kann alles machen. Heute eine Frau müssen können alles machen dürfen! Ich sagen, ich können alles! Wo ich brauchen einen Ehemann?
Gut über die Konjugation müssen wir nochmal sprechen, die Emanzipation hat sie verstanden, inhaltlich gab es eine 1. Ich mag Li und muss mir nur noch überlegen, welche interessanten Fragen ich ihr als nächstes stelle.
Je mehr ich höre, was manche jungen Leute hier sagen, desto mehr glaube ich, dass die Partei sich warm anziehen muss. Die junge Generation lernt denken, denkt munter weiter und wenn man schon ein Tabu zu Bruch gedacht hat, warum sollte man dann aufhören, wo’s gerade soviel Spaß macht. Sie sind alle Anarchisten, die sich als brave Studenten verkleidet haben. Es dominieren Hornbrillen und Rüschenkleidchen. Aber unter der Blümchenspange im Haar steckt ein Kopf, der das neue China genau beobachtet.
Einmal, in der ersten Woche in China nach dem Unterricht, kam eine kleine Schülerin auf mich zu und fragte mich, ob ich einmal mit ihnen ausgehen würde. Sie nickte zu ihrem Tisch. Ich hörte den Plural, sah ihr Nicken und sagte zu. Aber das ist eine andere Geschichte.