Arbeitstitel: Blaubeere

Eigentlich wollte ich diesen Blog »den langen Marsch nach Guangzhou« nennen, oder »die Welt ist im Wandel und ich gehe nach Guangzhou«. Was mein Privatleben angeht, habe ich halt einen Hang zu Dramatik. Bevor ich jetzt von Blaubeere spreche, erzähle ich mal, wovon ich sonst noch so alles schreiben wollte. 

Ich denke, dass ich nicht erklären muss, warum ich meine, dass die Welt im Wandel sei. Trotzdem komme ich später noch einmal darauf zurück: Klugscheißer machen sowas.

Der Titel »der lange Marsch nach Guangzhou« bezog sich darauf, dass ich schon seit ungefähr 5 Jahren in diese Stadt will, aber immer noch nicht ganz hier bin.

Das 1. Mal war ich wahrscheinlich 1981 in Guangzhou. Damals hat die Stadt gar keinen Eindruck auf mich gemacht: ich habe keine Erinnerungen an sie. Allerdings war dieser Besuch ein Moment jener großen Asienreise, die meine Mutter mit dem 5-jährigen Kalle machte und die auch mich gemacht hat. 

Zwar denke ich heute, dass wir meist selbst entscheiden, was uns prägt und voranträgt, als dass es Ereignis ist, das über uns gekommen war, aber diese – möglicherweise falsche – Erkenntnis ändert nichts daran, dass ich erst ein depressiver Teenager und später ein dauerbesoffener Mittzwanziger war, der stets den Wunsch hatte, weg und am besten nach Asien zu gehen. Was es war, das mich unglücklich machte, beschreibe ich nicht: nichts ist so uninteressant wie Probleme von gestern.

Ich machte zwar des öfteren lange Reisen aber erst 2013 floh ich ohne Rückflugticket nach China. Ich glaube, es war im Frühjahr 2015, als ich mit einem Freund nach Guangzhou ging, weil wir planten, dort zusammen eine Schule zu gründen. Wir entschieden uns dann gegen die Gründung. Hauptsächlich weil ich Angst hatte, dass so etwas meine geplante Weiterreise in andere asiatische Länder verhindern würde. Aber auch wenn ich damals statt nach Guangzhou nach Nanjing ging, hatte mich die Stadt am Perlfluss beeindruckt. Das aber hauptsächlich nur, weil hier tropische Bäume wachsen, das Wetter auch im Winter warm und das Essen immer gut ist. Jedenfalls war für mich seitdem Guangzhou Option Nummer 1, wenn es darum ging, mir einen neuen Job zu suchen.

Aber erst 2019 unterschrieb ich einen Vertrag für Guangzhou  und erst im März 2020 kam ich hier an.

Sowas wollte ich schreiben und finde es heute langweilig.

Nun bin ich hier, aber hatte noch kaum Gelegenheit die Stadt besser kennen zu lernen. Warum das so ist, warum alle Menschen zu Hause bleiben, weiß jeder. 

Es geht ein Virus um die Erde und wir halten hinter unseren Wohnungstüren den Atem an. Ende 2019 war ich noch an einer Schulgründung in Changsha beteiligt, genauer gesagt zusammen mit einer Kollegin und Freundin als Schulleitung angestellt. Als dieses Schulprojekt plötzlich beendet wurde, da sich die Schulgründer zerstritten hatten, waren wir wie vor den Kopf gestoßen. Heute erscheint mir das Jahr 2019 wie eine Geschichte aus einem anderen Leben und das Scheitern der Schulgründung nichtig. Ich wusste damals sofort, dass ich wegen Ting weiterhin in China bleiben wollte, auch wenn ich immer davon geträumt hatte, noch in anderen Ländern Asiens zu leben. Ich verlangte aber von ihr, nach Guangzhou mitzukommen.  

Hier begann das lange Warten. Mal schaffte mein alter Arbeitgeber nicht, diese und jene Papiere zu besorgen, dann brauchte die neue Schule weitere Wochen, um einen Arbeitsvertrag aufzusetzen. Am meisten störte mich damals, dass ich selbst gar nichts machen konnte. Mir war, als sähe ich dem langsamsten und langweiligsten Tennisspiel der Weltgeschichte zu. Das war ja nicht mein 1. Rodeo. Es war, um genau zu sein, mein 4. Jobwechsel in China. Und bis dahin hatte ich mit dem Wechselprozess wenig zu tun gehabt. Bis damals hatten sich der alte und der neue Arbeitgeber die Papiere zugespielt und ich bekam einen neuen Stempel in den Pass.

Ting war zwar bereit, mit mir nach Guangzhou zu kommen aber sie hatte auch mit ihren Eltern über mich gesprochen, so dass wir zum Frühlingsfest bei ihnen eingeladen waren. Wir wollten ihre Familie für eine Woche besuchen und blieben dann – Corona sei Dank – anderthalb Monate.

All dies steht ja in den letzten beiden Texten, die ich hier hochlud. Diese Zeit werde ich nie vergessen: im Guten wie im Schlechten. Ich habe ja nun wirklich schon einiges erlebt. Ich war in den achtzigern in Indien, in den frühen neunzigern lebte ich in Berlin, ich lebte fast 2 Jahre in Jerusalem, ich verbrachte fast ein halbes Jahr als Moslem auf Sansibar und ich habe noch vielen anderen Scheiß gemacht. Auch in der Zeit, in der ich so versoffen war, das ich am Wochenende eine Pause vom Alkohol brauchte, wurde es selten langweilig. Dieser Monat im Tanghaus war aber in Zeitunion eine der interessantesten, schönsten, langweiligsten und anstrengendsten Perioden meines Lebens.

In dieser Zeit, begann ja auch der Katastrophenfilm, der langsam vor unser aller Augen abläuft und in Zeitlupe zeigt, wie sich die Welt verändert. Die einen hoffen, dass uns diese Pandemie eine Chance bietet, unsere Welt zum Besseren zu verändern, die anderen meinen, dass sie Brandbeschleuniger sein wird, welcher aus schlimm katastrophal macht. Sicher ist, dass Pandemien immer zu den Reitern der Apokalypse zählten, die im Verbund Zivilisationen vernichteten. Wobei vernichten letztendlich immer verändern bedeutet. Denn wir – die Menschen – sind ja immer noch hier. Und so schrecklich auch ist, was passiert, so gespannt verfolge ich es doch.  

So sehr mich auch die Weltpolitik gefangen nahm, während ich bei den Tangs wohnte, sehnte ich mir auch meinen eigenen Alltag zurück. Im Haus der Tangs durfte ich nicht so lange schlafen, weil sich das für einen Schwiegersohn nicht gehörte und sollte gleich nach dem Aufstehen frühstücken. Schlag auf Schlag folgten dann Mittagessen und Abendessen und dazwischen hatte ich wenig Zeit zum Schreiben, durfte nicht spazieren gehen, weil die Nachbarn Angst vor Ausländern hatten. Die Zeit reichte meistens nicht einmal dazu, die letzte Mahlzeit zu verdauen.

So war ich glücklich, als ich 5 Jahre und anderthalb Monate später, als ich wollte, endlich nach Guangzhou ging. 

Allerdings ging ich nach ohne in anzukommen.

Ich hatte für die ersten zwei Wochen in der Stadt Stubenarrest. Ich durfte von Amts wegen das Haus nicht verlassen. Jeder, der damals aus einer anderen Provinz oder gar dem Ausland nach Guangzhou kam, musste – und muss – erst mal in eine 2-wöchige Heimquarantäne. Vor dieser hatte ich große Angst, aber ich überstand sie nicht nur problemlos, sondern genussvoll. Aber dazu später mehr. Zunächst einmal muss ich über China berichten, dass ich zwar keine Massengräber gesehen habe, dass es wirklich so zu sein scheint, dass dieses Land die Pandemie besser gemanagt hat als die meisten europäischen Länder und die USA, dass das Leben trotzdem oder eher, damit es so bleibt, noch nicht zur Normalität gefunden hat.

Wohngebiete darf nur betreten, wer dort wohnt oder geschäftlich dort zu tun hat. Dies wird per Ausweis und App kontrolliert. D. h., dass man, wenn man durch die Stadt geht, früher oder später eine Straßensperre findet, durch die man nicht durchkommt. 

Wer kann, arbeitet immer noch von zu Hause aus. Die Schulen und Universitäten Kantons habe  nicht wieder eröffnet. Die Schüler und Studenten bleiben zu Hause. Ich selbst muss bis Ende Juni online unterrichten. Jeder trägt eine Maske und wer sie absetzt, bekommt Ärger. Restaurants sind wieder geöffnet, aber nur jeder 2. Tisch darf besetzt sein, damit zwischen den Gästen Abstand besteht. Ketten wie McDonald’s oder Starbucks bieten ihre Waren nur zum Mitnehmen an. 

Ich muss mich auf verschiedenen Apps täglich melden und schreiben, ob ich gesund und wo ich bin. Dass dies mehrere Apps sind, liegt daran, dass die eine von der Universität, für die ich arbeite, gemacht wurde und die andere staatlich ist.

Dies würde schon genügen, um mir das Ausgehen zu verleiden. Hinzu kommt noch, dass zunehmend Gerüchte die Runde machen, dass die Ausländerfeindlichkeit in China zunehme. 

Meistens sind es Berichte darüber, dass Ausländer in Restaurants nicht bedient werden oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Gebäuden verwehrt wird. Aber es machen auch Videos die Runde, die polizeiliche Übergriffe zeigen. Allerdings muss man dazu sagen, dass bei diesen Übergriffen wahrscheinlich zugrunde lag, dass die betroffenen Ausländer nicht kooperieren wollten, d. h. sich nicht an die Vorschriften zum Seuchenschutz gehalten haben. Ich habe noch nichts dergleichen erlebt und merke nur, dass mich die Chinesen auf der Straße nun nicht mehr neugierig und freundlich sondern ein wenig ängstlich ansehen. Das kann ich verstehen, denn es ist mir nicht auf die Stirn gestempelt, dass ich schon seit Jahren in China und gesund bin. Außerdem fällt mir auf, dass ich auf einmal auf der Straße mehr Platz habe. Die Chinesen gehen mir aus dem Weg. Das ist ein Fortschritt, denn früher standen sie mir im Weg. Tatsächlich verging in meinem ersten Jahr in China kein Tag, ohne dass es in mir kochte, weil mir irgendwer auf aufdringliche Art im Weg stand. 

Nach 6 Jahren im Land verstehe ich China und die Chinesen immer noch nicht, aber noch weniger verstehe ich auch die Deutschen, die schon nach kurzer Quarantäne fordern, diese wäre zu beenden. Besonders verstehe ich dies dann nicht, wenn ich mir anschaue, mit welcher Geduld in China die Vorgaben zur Eindämmung der Pandemie von der Bevölkerung umgesetzt werden. Ich bin selbst so ein Querkopf, dass individuelle Freiheiten für mich lebenswichtig sind. Wenn jetzt aber argumentiert wird, dass wir unsere bürgerlichen Freiheiten dem Seuchenschutz opfern würden, bin ich fassungslos. Denn diese „bürgerlichen Freiheiten“, die geschützt werden sollen, sind nicht die Freiheit der anderen, sondern eher Quengelei von Wohlstandskindern, die ihre 1. Welt Probleme zurück haben wollen. Diese Bälger entlarven sich selbst, wenn sie vorschlagen, dass nur die Risikogruppen isoliert werden sollten, dann zeigen sie nämlich, dass es ihnen mitnichten um die Freiheit aller Menschen geht, sondern nur um die eigene Bequemlichkeit.

Wütender noch werde ich, wenn Politiker und Wirtschaftsfachleute davon quasseln, dass wir der Quarantäne nicht das Wirtschaftswachstum opfern dürften. D. h. nämlich nichts anderes, als dass Wohlstand der einen wichtiger wäre, als das Überleben der anderen.  

Aber ich bin es gewöhnt, vieles von dem, was andere Leute so machen oder lassen, nicht zu verstehen. Und nun verändert sich diese Welt, die ich doch nie ganz verstanden habe, auch noch. Ich finde das Studium der Geschichte, der Soziologie und der Psychologie hochspannend. In meiner Freizeit lese ich mit laienhaftem Interesse darüber. In diesen Tagen ist die Zeitungslektüre ein Genuss, wenn auch ein erschreckender. 

Abgesehen von meiner neuen Heimatstadt und der veränderten Welt, wollte ich davon erzählen, dass Ting schon immer immer ein Mensch war, der wochenlang zu Hause bleiben konnte und daher Quarantäne-geeignet ist.  

Ich hingegen sah mich immer als Menschen, der täglich an die frische Luft muss. Allerdings ist der Zeitgewinn, wenn man nicht zur Arbeit gehen muss, immens. Zwar unterrichte ich und muss das auch, denn wir brauchen Geld, aber ich unterrichte von zu Hause aus und könnte das für den Rest meines Lebens so halten. Ich kann endlich all die Dinge täglich tun, für die seit Jahren kaum Zeit fand.

Ich schreibe endlich an meinen Romanideen und glaube das 1. Mal daran, einen davon zu beenden.

Außerdem züchte ich Sauerteig und Ingwerbier und habe allgemein das Zubereiten von lebender Nahrung für uns entdeckt. Ting ist mit dabei und züchtet chinesische Probiotika. Wir kochen viel und füttern einander. Negativ ist mir dabei nur aufgefallen, dass ich, ein Deutscher, der meint, kochen zu können, mit einer Chinesin zusammen wohnt, die meint, nicht kochen zu können und der schlechtere Koch bin.

Eigentlich wollte ich also viel davon erzählen, wie ich, anstatt mich am politischen Diskurs zu beteiligen, koche, und dass ich manchmal 2 Std. brauche um von der Dusche zum Kaffee zu kommen, weil ich mich zunächst um verschiedene Hefekulturen kümmern oder an langfristigen kulinarischen Experimenten arbeiten möchte.

Stattdessen möchte ich Euch von Blaubeere erzählen.

Unser Glück wurde eigentlich nur dadurch getrübt, das Ting immer launenhafter und ich immer ungeduldiger mit ihr wurde. Ich sah die Ursache dafür nun doch in der Quarantäne, also darin, dass wir zu wenig Abstand voneinander hätten. Denn früher hatten wir uns zum einen während der Arbeitszeit wenig gesehen und hatten zum anderen durchaus unterschiedliche Interessen und Freundeskreise. Dass wir nun aber in einer neuen Stadt die Wohnung nicht verlassen durften und auf uns begrenzt waren, barg Streitpotenzial. Ich fand die ganze Zeit, dass wir erstaunlich gut miteinander auskämen und war von ein paar bilateralen Zickigkeiten nicht überrascht.

Als Ting dann aber begann, Eis statt Fleisch zu essen, wurde ich das 1. Mal nachdenklich. Nervöser wurde ich noch, als sie manchmal nur noch Reis mit Gemüse essen wollte. Als sie sich dann morgens übergab, war ich mir sicher. Allerdings brauchte ich noch 3 Tage, um sie davon zu überzeugen, einen Schwangerschaftstest zu machen. Während des Testes war ich sehr nervös und Ting hatte danach große Angst. Es ist ja auch nicht die beste Zeit dafür, ein Kind zu bekommen. 

Ting ist arbeitslos und somit nicht krankenversichert. Wir müssten also eine private Krankenversicherung für sie abschließen. Und dann ist ja da noch der böse Virus, der, da bin ich mir sicher, nächsten Winter eine erneute Runde um die Welt drehen wird. Es ist keine Zeit für Krankenhäuser. 

Allerdings wollen wir beide ein Kind und bis dieser Virus ganz verschwindet, wird es noch etliche Jahre dauern. Das war also so ein klassischer Fall von Verstand gegen Gefühl, aber ich ahnte schon, dass mein Gefühl stärker war. Zumindest ich wollte das Kind, das war überraschend schnell klar.

Und Ting eigentlich auch, ihre Angst war noch größer als meine, was verständlich ist, denn sie war ja schwanger. Wir gingen dann ins Krankenhaus, um einen 2. Test zu machen. Der Besuch im Krankenhaus zeigte, dass die Coronakrise in China  nicht vorbei ist. Anmelden musste man sich per App und ich durfte nicht alle Bereiche des Krankenhauses betreten. Der Ultraschall zeigte, dass Ting schon in der 6. Woche war. Während sie noch einmal zu einem anderen Arzt ging, verblieb ich im Wartezimmer und tat, was so jeder verantwortungsbewusste Vater macht: ich googelte. Dabei las ich, dass in der 6. Woche das Herz des Embryos schon schlägt. Ich war überrascht und glücklich und überrascht darüber, wie glücklich ich war.

Aber gleichzeitig begann die Angst, dass dieses Herz aufhören könnte zu schlagen. Da wusste ich, dass ich mich schon entschieden hatte.

Die nächsten Tage habe ich mich verhalten wie ein klischeehafter Trottelvater aus einer schlechten  Komödie. Ich umsorgte und versorgte Ting, so gut ich konnte, was ihr gefiel, fragte sie aber auch alle 5 Minunten, ob es ihr gut ginge, was ihr auf die Nerven ging. Um meine eigenen Fragen zu beantworten und Ting seltener in ihren Schwangerschaftsleiden zu unterbrechen, las ich viel über Schwangerschaften. Dabei las ich auch, dass unser Kind in der 6. Woche ungefähr so groß ist wie eine Blaubeere. Damit hatte das Gör seinen 1. Spitznamen weg. Was gut ist, denn Ting stört die Frage »geht es Dir gut?« mehr als die Frage »wie geht es Blaubeere?«

Plötzlich hat sich der Fahrplan meines Leben anders entwickelt und 2020 hat nicht nur die Welt sondern auch unser Leben verändert. Wichtig ist nicht mehr die Frage, wann die Welt wieder eröffnet, sondern das Blaubeere gesund auf die Welt kommt.

Aktuell ist aber eigentlich alles gleich geblieben, Ting hat eine wunderbare Ausrede dafür, jeden Morgen zu verschlafen. Das hat sie schon immer gern getan, aber ein guter Grund ist trotzdem schön. Ich koche nach wie vor sehr viel, achte aber jetzt auf Folsäure und Eisengehalt. Manchmal haben wir beide große Angst vor der Zukunft und dann freuen wir uns darauf, d. h., wir sind jetzt schon typische Eltern. Ich mache mir auch jetzt schon meine Gedanken, wie ich mein Kind und mich selbst unter einen Hut bekommen kann. Ich freue mich zwar sehr darauf, Vater zu werden, möchte dabei aber Kalle bleiben. Einer meiner Vorsätze dazu ist, bis zum Geburtstermin auch meinen ersten Roman fertig geschrieben zu haben. Das ist nicht nur ein wenig größenwahnsinnig, sondern auch insofern gut, dass ich weniger Zeit habe, Ting auf die Nerven zu gehen.

Natürlich reden wir viel über die Zukunft.

Bisher dachte ich ja immer, dass die Geburt eines Kindes für mich bedeuten würde, so langsam meine Rückkehr nach Deutschland zu planen, weil dort das Leben immer noch sicherer und besser wäre. Das war falsch. Vielleicht sollte ich doch lieber in einem Land verbleiben, in dem der Schutz von Leben über das Wirtschaftswachstum gestellt wird. Ich möchte nämlich nicht, dass Blaubeere in einem Land aufwächst, in der jede Solidarität in den Wind geschossen wird, sobald der Lebensstandard zu sinken droht.

Natürlich könnte ich ja auch konservativ argumentieren, auf meinen Eigennutz pochen und sagen, dass die 1. Welt heutzutage in Ostasien liegt und ich den Wohlstand, an den ich mich in China gewöhnt habe, in Europa vermissen würde.

Letztendlich freue ich mich aber einfach nur auf Blaubeere und möchte, dass sie sich damit wohl fühlen wird, Chinesin und Europäerin zu sein.

Ting verlangt, dass ich immer von »ihr« spreche, weil sie hofft, so eine Tochter beschwören zu können.

Seitdem ich das alles da oben geschrieben habe, sind schon wieder 2 Monate vergangen. Weil Ting nicht wollte, dass ich unser Glück und unsere Angst zu früh in die Welt hinaus posaune, habe ich diesen Text noch nicht hochgeladen. Ein paar von Euch wissen vielleicht schon, dass ich bald Vater werde. Aber andere sind sicher überrascht.

Ich selbst bin ja auch immer noch überrascht. Ich bin überrascht davon, wie sehr ich Blaubeere jetzt schon liebe. Schwangerschaften waren bisher für mich etwas ganz normales, das anderen Leuten hin und wieder geschieht. Da ich aber selbst beteiligt bin, erscheint es mir wie das größte Wunder der Menschheitsgeschichte, das um den 12. Dezember herum ein Kind auf die Welt kommt. Es überrascht mich noch mehr, dass es mir Spaß macht, Kinderklamotten shoppen zu gehen.

Scheiß auf Objektivität!

Mein ungeborenes Kind hat mich jetzt schon verändert. Ich bin disziplinierter und schreibe noch mehr. War ich bisher in finanziellen Dingen eher sorglos, versuche ich nun eine Zukunft für 3 zu planen. Für Ting ist es zurzeit natürlich schwierig, eine neue Arbeit zu finden. Zum einen ist sie schwanger, zum anderen ist da immer noch eine weltweite Pandemie.

Mein Gehalt ist für mich alleine gut, für 2 genug, aber für 3 wird es knapp. Auch wenn ich zurzeit anders über die Zukunft denke, als in den letzten 44 Jahren, bin ich eigentlich optimistischer als üblich. Wahrscheinlich wird es in den kommenden Jahren eher weniger Ausländer in China geben, sodass es mehr Jobmöglichkeiten für mich geben wird. 

Ganz aktuell sind wir auch mehr mit dem Papierkrieg beschäftigt, der mit einer deutsch-chinesischen Hochzeit daherkommt. Es ist wichtig, dass wir diesen gewinnen, bevor Blaubeere auf die Welt kommt, denn uneheliche Kinder sind in der chinesischen Bürokratie bisher kaum vorgesehen. Dies wird sich sicherlich in den nächsten Jahren ändern, aber sicherlich nicht bis Dezember. 

Aber ich denke, dass wir bis September alle Papiere zusammen haben und heiraten können. Ihr müsst jetzt allerdings kein Kreuz in Eurem Terminkalender machen, denn im September wird es nur die standesamtliche Heirat geben.

Die Party kommt im Frühjahr 21. Wer von Euch Lust hat, mit uns und Blaubeere im ländlichen Hunan zu feiern, hat also noch etwas Zeit Urlaub und Reisegeld zu sparen.

Naja, ich kann zwar auf die Objektivität scheißen, kann aber auch nur darauf hoffen, das bis dahin die Grenzen wieder offen sind und ein paar von Euch kommen können.

2 thoughts on “Arbeitstitel: Blaubeere

  1. Unbekannterweise (ich kenne ja nur Petra, aus der Schule!) ganz herzlichen Glueckwunsch zum jetzigen Zustand, eine grosse Freude sicherlich, fuer alle!!! Ich lese deine posts sehr gerne, dieser ist besonders schoen geschrieben, so dass man weiss :die Blaubeeren wirds gut haben! Gruesslis, von Claudia

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